Weil es mir wichtig ist und aus rechtlichen Gründen schicke ich voraus, dass sämtliche Personen, Namen und Orte in dieser Geschichte frei erfunden sind und Ähnlichkeiten mit mir Bekannten oder Unbekannten zufällig und unerwünscht.

Mein Umfeld hat mit mir Wechselbeschwerden. Nicht dass es bisher mit mir leicht gewesen wäre, nein. Aber wer hätte gedacht, dass ich jetzt, wo ich doch nun wirklich schon in die Jahr gekommen bin, sozusagen: jenseits von Gut und Böse, noch eine zweite Pubertät würde durchmachen müssen. Und meine Familie mit mir?

Begonnen hat alles mit einer Hitzewallung im September, im vorvorigen September, die ich damals noch nicht als solche erkannte. War es doch meine erste. Als Mehrkindmutter hielt ich meinen befremdlichen Zustand für eine Art Dreitagesfieber, einen Entwicklungsschub also, den zum Beispiel Babys durchmachen, wenn sie bemerken, dass es keinen Sinn hat, einfach nur zu sein. Denn: You are part oft he game! Mitmachen oder sein lassen, schoss es mir ein.

Während Babys aber entdecken, dass sie mitspielen wollen und wichtig sind, wollte ich nun plötzlich aussteigen und nur mehr mir selbst wichtig sein. Wir alle kennen „Lola rennt“. Mit meiner ersten Hitzewallung startete ich die Inszenierung von „Oma geht“. Aber auch das war mir damals noch nicht so bewusst. Vielmehr überkam mich nur eine Art Angstschweiß, der sich in meinem Hirn in der Frage manifestierte: „Ist das alles?“

Der Geburtstag meines Mannes stand an, der mit dem 25 Geburtstag meiner Tochter zusammenfiel. Und wie an allen Familiengeburtstagen, meinen natürlich ausgenommen, scheute ich nicht Kosten noch Mühen, ein in Erinnerung bleibendes Fest zu organisieren. Ja. Warum soll ich es nicht sagen: Es war das erste Mal, dass ich erkannte, dass diese Geburtstage und die dazugehörenden Feierlichkeiten für mich wichtig waren. Sie hatten sich in den letzten 35 Jahren zu meinem ganz persönlichen Kalender, zu meiner internen Zeitrechnung entwickelt. Während an meinen Geburtstagen die Message: „Ist ja nicht so schlimm! Du bist halt wieder ein Jahr älter.“, mir tröstend auf die Schulter klopfte, ging bei allen anderen Familienmitgliedern zum runden, zum halbrunden, zu jedem einstelligen und erst recht zu jedem zweistelligen Wiegenfest die Party so richtig ab. Nicht zuletzt auch, weil ich als Festatgsrednerin der Familie es gewohnt war, die richtigen Worte zu finden.

Diesmal nahm ich in der Rede meinen indirekten Abschied. Ich bedankte mich für die vielen schönen Jahre im Kreise meiner Lieben und hielt einen Rückblick auf das, was wir alles gemeinsam gemeistert und geschaffen hatten. Die Gäste lauschten mir mit erhobenen Gläsern und dem Einen oder der Anderen traten Tränen in die Augen, alle Kinder waren mit ihren LebenspartnerInnen zugegen, auch die Enkelkinder waren anwesend. Familienfreunde waren dabei. Als ich endete mit den Worten: „Und nicht zuletzt möchte ich mich dafür bedanken, dass ich so lange Teil dieser wunderbaren Familie sein durfte,“ rief die Buchhalterin meines Mannes, die mit ihrer Familie eben solange zur Familie gehörte wie ich selbst: „Das kann sie halt, unsere Eva! Wunderschöne Reden schwingen. Prost und alles Gute!“ Die Gläser klirrten. Alle prosteten und lachten und die Torte wurde angeschnitten.

Meine Tochter defilierte mit ihrem Weinglas, drückte mich und fragte besorgt, ob denn alles in Ordnung mit mir sei. Die Schwester meines Schwiegervaters, die den nach Thailand entflohenen Teil der Familie repräsentierte, gratulierte mir zur gelungenen Rede mit den Worten: „So hab ich das noch gar nicht gesehen. Bisher habe ich dich immer für eine herrschsüchtige Person gehalten, der nichts und niemand gut genug ist. Ich fürchte, ich muss meine Meinung über dich revidieren und mich fast entschuldigen.“

Ihre Böswilligkeit erreichte mich schon nicht mehr und zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass mir nicht mehr einmal an einer letzten Abrechnung lag, schon gar nicht an einer Entschuldigung von irgendwem. Am darauffolgenden Wochenende fuhr ich nach Kroatien, mit zwei Freundinnen, lernte in der Strandbar einen Hamburger kennen und genoss vier Stunden später den ersten One-Night-Stand meines Lebens. Mein letzter ehelicher Verkehr lag Jahre zurück. Dass ich seit Jahrzehnten nur noch mit mir selbst freudvollen Sex hatte, habe ich bis zum vorvorigen September nicht einmal bedauert. Ich hielt es für biologisch gegeben, dass Frauen, insbesondere solche mit vier Kindern und zwei Enkelkindern, auf ein abgeschlossenes Sexualleben zufrieden zurückblickten, während Männer anscheinend ein lebenslängliches Anrecht auf Kopulation mit jungen, körperlich attraktiven Partnerinnen hatten. Soweit das Auge reichte, sah man Laufhäuser und männliche, weiße Role Models mit Frauen an ihrer Seite, die ihre Töchter oder Enkelinnen hätten sein können. Ich hielt den Verlust meiner Libido für biographisch vorhersehbar und chronologisch-natürlich bedingt. Die Natur der Frau ist es, Leben zu gebären, während die Natur des Mannes ihn dazu zwingt, seinen Samen zu spreaden, wo auch immer sich Gelegenheit dazu ergibt. Nun gut. Auf so einen Superspreader war ich in jener lauen September Vollmondnacht am Strand gestoßen und Gioconda Bellis Mondhitze überkam mich.

Dieses Weihnachten fiel der Truthahn aus, Silvester feierte ich mit meinem Kurschatten in Nizza, der sich sehr erfreut zeigte, über meine sexuelle Revolution, die ich eingeläutet hatte, sofort aber anmerkte, dass ihm das nur Freude machen würde, solange ihm aus dem Vergnügen keine Kosten entstünden, wie zum Beispiel diese Dreitagesreise, die er sich etwas habe kosten lassen. Erste Klasse Flug. Negresco. So würde das selbstverständlich nicht weitergehen. Immerhin hatte er familiäre Verpflichtungen, die sich in seiner Wohnung und in der Organisation seines Privatlebens nicht übersehen ließen und die auch in unserer sich eben erst zart anbahnenden Beziehung mehr als präsent waren. Nie habe ich mit irgendjemanden so viel über Schwangerschaft, Kinder, Geld und Sicherheit gesprochen, über verpasste Chancen und über das Recht sich auszukotzen. Wir begruben den Plan, jemals wieder zusammen auf Kur zu fahren.

Im darauffolgenden Sommer sah ich die Kids nur noch sporadisch und ich hörte vollends damit auf, mir über sie den Kopf zu zerbrechen. Ich konnte ihre teilweise recht befremdlichen Arten, ihre Leben zu führen, wohl genau so wenig nachvollziehen, wie sie meines, hätten sie sich Mühe gegeben, sich in mich hineinzuversetzen. Ich erkannte klar und deutlich, dass ich nun an der Schwelle stand, wo sich das Kräfteverhältnis umkehrt. Meine Mutter, Gott hab sie selig, sagte immer: „Irgendwann werden die Kinder zu Eltern und die Eltern zu Kindern.“ Das war mein aktueller Standpunkt, an dem ich mich verortete. Hier war der Ausgangspunkt meiner Menopausenreise. Ich hatte es in der Hand, meinen Kindern zur Last zu fallen, oder meine ideellen Koffer zu packen. Und in einer neuerlichen Hitzewallung überkam mich die Erkenntnis, dass ich zwar mein ganzes Leben lang für alle Kredite mitunterschrieben hatte, mir aber davon nichts geblieben war, als der Eintrag ins Grundbuch auf ein Halbes, das mit einer ganzen Firma und ihren Schulden belastet war. Und mag es auch richtig sein, dass es selten Frauen gibt, die trotz mehrerer Kinder ein Leben lang selbst erwerbstätig sind und verdienen, so war an meinen Finanzen ebenso ersichtlich, was man flott den Gender-Gap nennt. Das erste Kind hatte Einkommensverluste meinerseits gezeitigt, die an die statistischen 40% ohne weiteres herankommen. Hätte jedes weitere Kind weitere 20% bedeutet, dann würde ich heute realiter nur mehr auf Pump leben, mit einer ebenso statistischen Lebenserwartung von weiteren 30 Jahren. Lang genug hatte ich diese Gedanken von mir geschoben. Lang genug hatte ich auf Sommerurlaube verzichtet, fuhr nur Schi, wenn auch die Buchhalterin und ihre Familie Lust auf Schiurlaub hatten und gönnte mir besonders in meiner arbeitslosen Zeit nach der Krebsoperation und dem Burn out nicht einmal neue Jeans vom H&M oder einen Friseurinnenbesuch. Nun war Schluss. Ich wollte mir nicht mehr von den braven Frauen in meiner Verwandtschaft erzählen lassen, dass ich ohnehin auf meine Kosten käme. Obwohl ich mein Haus so selten putze und mit meiner Religionslehrerinnenrunde schon zweimal die letzten fünf Jahre auf dreitägigen Hüttenwanderungen war, wollte ich jetzt aufbegehren. Endlich einmal wollte ich auf den Tisch hauen und nicht mehr nur lesen von den bösen Mädchen, die nicht in den Himmel kommen. Und ich bat meinen Mann um die Scheidung.

Der fiel nur nach außen hin nicht aus allen Wolken. Obwohl er alle meine Wünsche zu unserem gemeinsamen Leben stets mit einem kopfschüttelnden Lächeln abgetan und mich vor Freunden und Bekannten mit Vorliebe als weltfremd und sozialromantisch hingestellt hatte, sah ich, dass er nun den Atem anhielt und den Ernst der Lage erkannte. Vielleicht schoss es ihm auch durch den Kopf, dass er irgendwo auch meinen Träumen einmal hätte nachgeben können, dass ich vielleicht, so wie er, auch gerne meine eigene Firma, mein eigenes Mietshaus, mein eigenes Motorrad gehabt hätte. Damit, dass ich unser gemeinsames Projekt, nämlich die Kinder, als abgeschlossen betrachten könnte, hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlicher wäre ihm noch erschienen, ich hätte Selbstmord begangen, so wie etliche Frauen in meinem Alter. Er war relativ sprachlos und nickte nur: „Ja, von mir aus.“

Er konnte meinen Scheidungswunsch auch nicht auf meine Wechselbeschwerden zurückführen. Wie auch? Alles Hormonelle oblag seit Jahr und Tag mir. Mit dem Geld, das ich verdiente, konnte ich nicht nur alle Kredite besichern, ich war auch ein Leben lang für meine Verhütung und alles was mit meinem Körper zu tun hatte aufgekommen, natürlich auch für alle Pampers, Kindertagesstätten und gesundheitliche Angelegenheiten im weitesten Sinne, die mich und die Kinder betrafen. Ich erinnere mich noch, als wir einmal bei einem Spaziergang mit den Noch-nicht-Schulkindern besprachen, wie ich denn nun weiter mein Leben und wohl auch meine Verhütung finanzieren wollte, wenn ich die Wiedereinstellungsfrist als Sozialarbeiterin bei der Caritas nicht einhalten könnte, weil im Sommer keine Kinderbetreuung in Tschillmitsch zur Verfügung war. Mein Mann zeigte sich wohl an der Problematik interessiert, brachte sich auch insofern in die Diskussion ein, als er feststellte, er könne sich lediglich um seine Firma kümmern und das sei mit mehr Sorgen verbunden als ich mir überhaupt ausmalen könne, aber im Übrigen seien das wohl meine Angelegenheiten. Das hätte ich mir schon früher überlegen müssen. Mit dieser Haltung begleitete er mich durch meine Ehejahrzehnte. Keinen Tag war ich während meiner unverschuldeten Arbeitslosigkeit im Sozialbereich bei seiner Firma angemeldet, von Ersatzpensionszeiten, die er mir finanzieren hätte können, wollte er nichts wissen. Zu Weihnachten schenkte er mir einen Mund- und Nasenschutz.

Der Wechsel kam mir also wie gerufen und das Fieber der inneren Hitze fuhr mir ins Gehirn. Wenn ich etwas sicher wusste, dann war es das: Nie wieder würde ich so leben, wie in den letzten zwanzig Jahren. Meiner Mutter, der Feministin, sei Dank, dass sie mir schon im Kindergartenalter darüber Vorträge gehalten hatte, dass eine Frau berufstätig sein muss und ihr eigenes Geld braucht. Auf diese Art und Weise konnte ich den Kindern neben der Zusatzversicherung auch so manchen Computerkurs und ähnliches finanzieren, was mein Mann nur für hinausgeschmissenes Geld gehalten hatte – und mir dräut eine kärgliche, aber immerhin eigene Pension. Nein. Ich würde nicht weitere Jahrzehnte neben einer heraushängenden Steckdose schlafen, die Verantwortung für sich chronisch verstopfende Abflüsse übernehmen und wegen Abstattungsaufforderungen von Konsumkrediten nicht ans Meer fahren. Diese Zeiten waren vorbei.

Wie in Lola rennt, kamen mir Visionen verschiedener Austrittsszenarien vors innere Auge. Bilder vom Scheitern und Bilder vom Weitermachen. Eines aber war vollkommen klar: Oma geht.