Corona verstärkt die Bildungsmisere und anscheinend ist das Einzige, was uns einfällt, ständig neue Forderung von Experten zu diskutieren. Dabei scheint es ganz egal zu sein, woher diese Experten – ganz selten sind es auch Expertinnen – kommen. Mittlerweile sind wir alle so verunsichert, dass wir nach jedem Strohhalm greifen. Wir wollen alles glauben, Hauptsache der Spuk ist bald vorbei. Aber die Zahlen steigen rasant, die Zahlen in den Intensivstationen und die Zahlen der Expertenmeinungen, die Zahlen der AnalfabetInnen und die Zahlen der BildungsverliererInnen.

Vor 10 Jahren schon haben fast 400.000 Österreicherinnen und Österreicher das Bildungsvolksbegehren unterzeichnet. Ich war in Wien, als Androsch, Glattauer und Salcher in der wohl gefüllten Aula der Industriellenvereinigung die Bedürfnisse und Notwendigkeiten eines modernen Bildungssystems darlegten. Im Publikum viele Mütter, auf der Bühne Experten. Auf die Frage, wie viele der Anwesenden ihre Kinder in Privatschulen hätten, hoben damals zwei Drittel der Anwesenden die Hände.

Warum fällt mir das heute ein, wenn ich den Artikel „Experten fordern: Schulen im Sommer auf!“ in der Kleinen Zeitung lese? Zuerst einmal, weil so viel Zeit vergangen ist seither. Zwei meiner vier Kinder sind nicht mehr im Schulsystem. Ich bin zehn Jahre älter und mutloser geworden. Ich würde heute wohl nicht mehr Androschs Ruf nach Wien folgen. Ich fühle mich zu alt, zu schwach, zu missverstanden und habe außerdem gerade COVID. Aber ich bewundere Androsch und Glattauer, dass sie des Rufens nicht müde werden. Wir werden gestorben sein und nichts wird sich geändert haben. Von der bevorstehenden Bildungsreform hat man schon in den Achtzigern geredet, als ich zur Matura ging.

Die prekäre Situation unserer Kinder, die Tatsache, dass nach einem Jahr Pandemie immer noch Kinder ohne brauchbare Endgeräte für Homeschooling dastehen, schreit in einem Land des Wohlstands zum Himmel. Beim Wort „Deutschförderklassen“ wird mir mittlerweile schlecht. Als DaF-Trainerin – ich unterrichte Deutsch als Fremdsprache nach Abschluss meiner universitären Ausbildung seit 1991 – plädiere ich für „Menschlichkeitsförderklassen“. Meine Schülerinnen und Schüler, die in den letzten Jahren gute Fortschritte gemacht haben, verdanken ihren Erfolg nicht irgendwelchen Förderklassen, sondern sich selbst – und in den meisten Fällen ihren Müttern, die für sie kämpfen wie Löwinnen.

Wer es nicht geschafft hat, in den ersten zehn Lebensjahren Deutsch zu lernen, obwohl er / sie hier geboren ist, dem / der ist auch mit einer Deutschförderklasse im Sommer nicht zu helfen. Sprachstandserhebungen nach Abschluss von drei Kindergartenjahren zeitigen seit Jahren schreckliche Ergebnisse, die ich noch nie öffentlich diskutiert sah. Einmal schrieb ich einen Brief an die Landesschulbehörde, mit Fotos von den „Kindergartenzeugnissen“ und einer dringenden Anfrage, wie denn so etwas möglich sei?  Nach drei Jahren Kindergarten verstehe ein in Deutschlandsberg geborenes Kind keine Wer-, Wie-, Wo- und Was-Fragen, die Mutter aber kommt stolz zu mir in die Frauenberatungsstelle und zeigt mir das „Zeugnis“ (nämlich die Sprachstandserhebung) ihrer Tochter, die jetzt schulreif ist. Gerührt. Mit Tränen in den Augen, denn lesen kann sie selber nicht.

Die Landesbehörde schickte mein Schreiben an die Bezirksschulbehörde, von dort rief man mich an, was ich denn mit meinem Schreiben bewerkstelligen wolle. Als ich sagte, ich wollte nur zu bedenken geben, dass hier etwas nicht stimmen kann, meinte die Amtsperson: Keine Sorge! Wir werden uns darum kümmern. Wir dachten schon, Sie wollen Schwierigkeiten machen.

Ich bot meine fachliche Expertise an. Man wünschte mir schöne Sommerferien.

Zu welchem Schluss kann ich also kommen, zehn Jahre nach Salchers talentiertem Schüler, mitten in einer unberechenbaren Pandemie? Nur so viel: Wir sind die Expertinnen!

Jede von uns ist die beste Expertin für ihr Leben und weiß, was sie sich zutrauen kann und wie sie es schaffen kann. So traurig das auch klingt. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen. Und jeden Tag die Nachrichten in einfacher Sprache zu hören und zu lesen, täglich zehn Minuten zu schreiben und abends im Bett drei Seiten in einem Buch zu lesen, hilft mehr als eine Abstimmung darüber, wer sich wann zu welcher Förderklasse im Sommer anmelden darf. Die Zeit läuft. Wer nicht lernt, verblödet.