Patriarchat im Krisenmodus

Seit dem Tod der 22-jährigen Masha Amini herrscht Aufruhr im Iran. Wir konnten beobachten, was nach einem Femizid abläuft. Der Schock erfasst das unmittelbare Umfeld, und dann bemüht man sich erst einmal das Geschehene zu verharmlosen und die Schuld dem Opfer in die Schuhe zu schieben. Masha Amini war selber schuld, denn die staatliche Sittenpolizei, ist nur deshalb eingeschritten, weil sich die junge Frau falsch verhalten hat. Das Leben der ungehorsamen Frauen ist – selbst im 21. Jahrhundert – unwertes Leben. Um ihren Gehorsam zu zeigen, verhüllen Frauen im Iran ihren Körper und ihr Haar. Damit bekunden sie öffentlich, dass sie sich mit Religion, Staat und Scharia identifizieren.

Nun zeigen Menschen weltweit ihre Solidarität, unter anderem indem sie sich vor laufenden Kameras die Haare abschneiden.

Was muss passieren, dass Frauen auf die Barrikaden steigen? Allein 24 Femizide gab es heuer schon in Österreich. Das Budget zum Gewaltschutz wird aufgestockt. Aber sonst? Egal, wie viele Frauen keine Kinderbetreuung für ihre Kleinkinder haben und daher nicht arbeiten, nicht autonom sein können. Egal wie groß der Gender-Pay-Gap nach wie vor ist. Egal, wie vielen Frauen bekannterweise schadhafte Verhütungsspiralen eingesetzt wurden – und hier bekommt das Wort Gewalt-Spirale eine ganz neue, noch menschenverachtendere Bedeutung. Egal wie viele Frauen ihre gesamte Freizeit mit unbezahlter familiärer Care-Arbeit verbringen. Sie nehmen es in Kauf, um ihren Gehorsam zu zeigen, um ihren Beitrag zu leisten. Unsere Töchter werden dieses österreichische System forttragen, wie die Frauen es in den letzten Jahrzehnten im Iran mit der Macht der Mullahs taten. Unter dem Deckmantel einer verschrobenen Moral und scheinbar zum Wohle der Familien, der Gesellschaft, lassen Frauen sich weltweit knechten und sind doch, dort wie da, selber schuld. Victim Blaming, die erniedrigte Frau, die noch mehr gedemütigt werden muss, sollte sie es wagen, etwas Gewalt zu nennen, von dem die Weltwirtschaft profitiert. Kämpfende Frauen sind ein No-Go.

Die Revolution im Iran entstand erst, als Menschen das Fehlverhalten Masha Aminis als heldenhafte Tat würdigten, sich mit ihr und allen anderen unterdrückten Frauen solidarisierten und sich gegen die Staatsmacht wandten. Seite an Seite kämpfen nun vor allem junge Leute gegen ein übermächtiges, von ökonomischen und patriarchalen Interessen getragenes Staatswesen. Feminismus heißt, sich für Gleichberechtigung aktiv einzusetzen, so dass himmelschreiende Ungerechtigkeiten nicht mehr geschehen können. In Österreich hieße das, sich öffentlichkeitswirksam feministisch zu positionieren. Aber wer hat dazu schon den Mut?

Vom Wollen und vom Sein

Ich will eine Künstlerin sein, eine Schriftstellerin! Sie sagt das, sitzt neben mir und sieht mich herausfordernd an. Was kann man wollen? Was kann man sein? Was kann frau wollen, und wie kann sie es sein? Ist es im Alter leichter, etwas zu wollen oder zu sein?

Tausend Fragen tun sich mir auf, im nebelumwaberten Demmerkogelhaus. Im Laufe der Jahre ändert sich alles. Im Laufe der Jahrtausende ändert sich nichts. Der Weltenlauf bleibt immer derselbe. Junge Frauen erleiden, was alle jungen Frauen vor ihnen erlitten haben. Alternde Frauen fürchten, was alle alternden Frauen vor ihnen befürchtet haben.

Ich brauche eine Bühne. Ich will spielen. Das Theater in mir muss heraus, muss sichtbar werden. Die Angst, stumm zu bleiben. Die Furcht, die Gelegenheit zum großen Auftritt nicht mehr zu bekommen. Das Bangen, nie mehr wieder Lampenfieber zu haben. Das ist unser Weg, der sich zwischen Möglichkeiten und Gelegenheiten schlängelt. Immer mehrere Möglichkeiten, ungenutzte Gelegenheiten, verkannte Früchte einer Erkenntnis, die wir nicht ersehnten. Die paradiesische Schlange züngelt uns an. Lispelt: Es läuft etwas schief! Dann merkst du, dass etwas mit dir nicht stimmt. Es ist nicht stimmig. Du stimmst nicht. Dir fehlt die Stimme. Es ist vorbei. Es ist aus. Das ist das Ende.

Und doch ist da ein Funke. Sie facht das erloschene Feuer im Herd wieder an, schiebt Asche mit einem Holzspan zur Seite, gibt fein gehobeltes Gut auf die verletzliche Glut. Sie bläst zuerst vorsichtig, dann heftiger. Wir sind die Glut, und sie facht uns an. Ein Knistern. Ein Staunen. Es gelingt.

In der Glut schlummert das Feuer. Die Künstlerin schlummert in mir. Es ist ein archaisches Ritual, in der Asche zu graben, nach Resten zu suchen, das Glühen zu erkennen und es – trotz aller Widrigkeiten – zum Glimmen, zum Leuchten, zum Brennen zu bringen.

Du bist das Feuer, das du in dir fühlst. Du bist die Schreiberin, die gewaltige Wortzauberin, die Schamanin des Nonsens und der Sinnhaftigkeiten. Die feinfühlige Künstlerin, die wutentbrannte Schriftstellerin.

Angep*sst

„Lieber zerfranst es mich …“ heißt das Hörspiel von Manuela Tomic, die vor lauter Anpassung sogar auf das Hatschek bei ihrem Namen verzichtet. Hat jemand schon von ihr gehört? Nein, wohl die wenigsten.

Kein Wunder, denn wer sich anpasst und anpasst und anpasst, verschwindet in der Menge. Geht auf im großen Ganzen. Verliert sich. Unsere Geschichtsschreibung aber interessiert sich nicht nur für kapitalistischen Drive und territoriale Eroberungen, für Atomwaffen und Bodenschätze, nein sie ist darüber hinaus ganz geil auf diejenigen, die selbst herausragend unique, andere zur Anpassung zwingen. Je mehr du bezwingen kannst, desto profitträchtiger bist du nämlich. Im Gegensatz zur Disziplin Anpassung, in der wir Frauen es zu Spitzenleistungen gebracht haben, sind Frauen in der Disziplin Bezwingung ganz schlecht. Hohes Anpassungspotenial, bei approximativ null Bezwingungsenergie.

Der Tag, als meine Identität zum Versteckspiel wurde, lautete der Titel von Frau Tomics Essay, vor ein paar Monaten in der Zeitung. Auf dem Titelblatt derselben prangt das 1:1 gegen Frankreich, das unsere großen Söhne, die Töchter mitmeinend, aber in der Bundeshymne zu Beginn des Spiels beharrlich nicht singend, errungen haben. Unter deutscher Führung feiert unser Nationalteam endlich wieder Erfolge. Es will den Sieg. Die erste Doppelseite der Samstagszeitung gehört einer Philosophin. Und: Über welches Thema könnte eine Frau, eine Migrantin, wohl besser philosophieren, als über Anpassung.

Nicht nur Frau Tomic, auch wir sehen allenthalben Ukrainerinnen. Am Land nicht gar so viele wie in den Städten, aber wir haben eine gewisse Sensibilität dafür entwickelt, wer Unkrainerin sein könnte. Wir haben unseren Blick an die Berichterstattung der Medien angepasst.

Liesmann, der Vordenker der Nation, fragt sich ernsthaft, ob man etwas gegen Migranten und Zuzug haben darf, jetzt wo die EU sogar, nach schier endlosen Bemühungen, zu einem europäischen Verteilungsschlüssel gefunden hat. Aber lassen wir Liesmann rechts liegen! Er ist nur einer von vielen, die das Anpassen sicher nicht nötig haben. Ein genialer Typ! Von bezwingender Logik. Quasi omnipräsent. Sich ständig auf renommierte Taxonomisten von historischem oder literarischem Wert berufend. Abgesichert in der patriarchalen Seilschaft.

Die eigene Identität als Versteckspiel. Ist das noch Existentialismus, frage ich mich nach drei Tagen mit Camus, dem Hund meiner Tochter, oder steckt dahinter schon ein Streben nach Transzendenz?

Man will ja arbeiten, sucht Arbeit, um die eigene Existenz zu bestreiten, so viel steht fest. Menschen in den unteren Einkommenssegmenten arbeiten nicht, um sich selbst zu verwirklichen, sondern um den Alltag zu finanzieren. Lebenshaltungskosten zählen. Unbezahlte Frauenarbeit hingegen wird, der öffentlichen Wahrnehmung nach, zur weiblichen Selbstverwirklichung verrichtet. Ja. Das nehmen sich die Frauen unserer Tage eben heraus. Wozu hat man schließlich Kinder? Kinder, Familie, Haus und Garten, Hund und Katz, Oma und Opa, sie verdienen unsere Wertschätzung. Klartext: Das sind die, für die wir selbstverständlich vorrangig und gern entlohnungsbar alles tun.

Du lebst deine basissozialisierte Identität, tauschst vielleicht deinen Namen, sicher aber deinen Rahmen und schwups, schon bist du Ehefrau, Mutter, Schwiegertochter, Hegende und Pflegende. Ausradiert die begabte Pflichtschulgöre, die freche Maturantin, die kluge Bacheloranwärterin, die zukunftsorientierte Masterstudentin. So leicht, wie dein Namen seinen Hatschek verliert, lässt du deinen vollen Kühlschrank zu Hause zurück, in Sarajevo, in Kiew, in irgendwo. So leicht und beiläufig rutschst du in ein Etwas, in dem plötzlich nur mehr eines zählt: die Anpassung. Du bist ein fähiges Mädchen, kannst auch das und bist stolz darauf.
Weil ich ein Mädchen bin, singt Lucilectric und beschreibt, wie du mit femininen Waffen die Welt dazu zwingst, dich zu entwerten. Frauen bezwingen natürlich auch, aber in erster Linie sich selbst. Schrei laut: Ich bin nichts wert, aber ich will arbeiten, Kinder kriegen und zum System gehören! Sollte dich jemand fragen warum, dann hast du natürlich eine Antwort: Die eine Antwort: Alles für die Liebe.

Also doch Transzendenz, nix mit Existenzialismus. Das ist der namenlose Grenzübertritt, den Frau Tomic beschreibt. Daher kommt das mulmige Gefühl. Wir müssen über den Styx.

Du möchtest arbeiten. Es ist in unserem Jahrhundert ganz normal, dass jede Frau auch eine Karriere hat, ob sie will oder nicht. Ein eigenes Konto, einen online-Finanzamt-Zugang. Frauen sind vollkommen gleichberechtigt bei uns, wer würde das abstreiten. Was sie aus dieser Gleichberechtigung machen? Nächste Frage. Frauensolidarität? Führt uns wieder in die Transzendenz.

Frau Tomic beschreibt auch ihre Flucht in die öffentliche Bibliothek, wo sie gerne liest. Dort kann sie sein, wer sie ist. Die Autoren, die sie zitiert sind allesamt Männer. Unangepasste Männer natürlich, sonst wären sie ja nicht berühmt geworden. Wer oder was hat sie berühmt gemacht und wird verhindern, dass Frau Tomic oder ich berühmt werden? Ist das eine berechtigte, eine nebensächliche, eine politische oder eine existenzielle Frage? Nein! Bitte keine Transzendenz! Ich lebe noch. Und Frau Tomic auch.

Wem der Schuh passt, sagt Liesmann. Auch die Philosophie hat es nicht weit gebracht im nicht mehr so neuen Jahrhundert. Ziemlich angep*sst.

Sexismus ist Betrug an der Mehrheit

Sexismus ist abzulehnen, darüber ist man sich spätestens seit #metoo einig. Die Tiroler Studie, deren Ergebnisse dieser Tage veröffentlicht wurden, beleget, dass im Durchschnitt 75% der Frauen angaben, von Sexismus betroffen (gewesen) zu sein. Das zeichnet ein widerwärtiges Sittenbild unserer Gesellschaft. Wenn wir uns vor Augen halten, dass 52% der Bevölkerung Frauen sind, denen von klein auf beigebracht wird, dass Männer und Frauen, vielmehr alle Geschlechter, gleichwertig sind und dieselben Rechte haben, ist das Betrug an der Mehrheit. Menschenrechte nämlich gelten für alle. Es handelt sich keineswegs nur um mangelnde Sensibilität, wenn ich mich einer bestimmten Personengruppe gegenüber nicht zu benehmen weiß. Egal ob anzügliche Witze, unangebrachte Kommentare zur Körperlichkeit oder andere physische oder psychische Übergriffe, niemand hat das Recht, seine Mitmenschen zu peinigen oder zu erniedrigen. Ein grundlegendes Problem stellen antiquierte Rollenmuster dar, die wir in Österreich auch im 21. Jahrhundert noch immer nicht überwunden haben. Was ist also Sexismus, und wie können wir ihn erkennen? Im Report vorvoriger Woche gab es einen Beitrag zur Bundespräsidentenwahl, der sich – wie wir alle wissen – keine Frau stellt. Es wäre doch eine gesellschaftspolitisch hoch interessante Frage, wie es kommt, dass es zwar viele Kandidaten, aber keine einzige Kandidatin gibt. Ein Reporter befragt im TV-Beitrag Menschen auf einem Sommerfest. Die Männer werden gefragt, ob sie Vertrauen in das Amt des Bundespräsidenten haben und ob sie überhaupt zu Wahl gehen werden. Eine Frau wird gefragt, ob es sie denn störe, dass es keine weibliche Kandidatin gebe. Ist es nicht seltsam, dass schon die Fragestellung suggeriert, Männer wüssten besser über die Kompetenzen und Sinnhaftigkeit eines Amtes Bescheid als Frauen? Es kommt aber noch viel schlimmer. Die Antwort der Frau ist, es störe sie nicht, denn Männer seine eben viel umgänglicher.

Natürlich kann das ihre Meinung sein. Unbenommen. Die Frage aber ist: Warum zeigt uns der ORF diese Interviews?

Stellen wir uns vor zu einem Thema werden schwarze und weiße Menschen befragt, es geht um eine Führungsposition, um die sich zufällig lauter Weiße beworben haben. Dann werden mehrere Menschen um ihre Meinung zur Führungsposition gefragt. Neben fünf Weißen, fragt man auch einen Schwarzen. Den fragt man aber nicht nach der Sinnhaftigkeit der Führungsposition, sondern man fragt ihn: Stört es Sie, dass sich nur Weiße um diese Führungsposition bewerben?

Der Schwarze gibt zur Antwort: Nein, das stört mich nicht, denn Weiße sind viel umgänglicher.

Der ORF hätte nicht zweimal überlegt und dieses Interview ausgesiebt, wie viele andere bei allen ähnlichen Befragungen sonst auch.

Dieses Denkbeispiel zeigt uns, dass die Sensibilität in Geschlechtergleichstellungsfragen sehr zu wünschen übrig lässt. Wenn Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen und einen Großteil der Care Arbeit in Familien und außerhalb leisten, spricht niemand von Rassismus. Tatsache aber ist, dass schon John Lennon 1972 erkannt und veröffentlicht hat: Woman is the Nigger oft he World.

Und das wird auch so bleiben, wenn uns öffentlich anerkannte Bildungseinrichtungen und Medien die patriarchale Männlichkeit weiterhin als normal verkaufen und zu deren Absicherung immer wieder auch ein paar Frauen zu Wort kommen lassen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, mit den Mächtigen solidarisieren und öffentlich ausrufen: „Mein Gott! Die armen Männer! Diese verbitterten Emanzen hacken immer wie Furien auf ihnen herum. Also ich habe nichts gegen Männer. Im Gegenteil, ich liebe sie!“

Dann ist die Welt wieder in Ordnung, und alles bleibt, wie es ist.

Gewissensfrage

Mütter haben ein schlechtes Gewissen. Das belegt jetzt auch die neueste Studie. Mütter fürchten, den Anforderungen an sie nicht zu entsprechen. Dieses schlechte Gewissen haben sie vor Gott und der Welt. Sie fürchten, ihren Kindern gegenüber nicht genug Zeit, nicht genug Geld, nicht genug Engagement aufzubringen. Sie fürchten, ihre Kinder nicht optimal zu fördern. Sie fürchten, für einen Startnachteil ihrer Kinder in ein erfolgreiches Leben verantwortlich zu sein. Sie fürchten, die falschen Entscheidungen und letztlich die falschen Väter getroffen zu haben.

Woher kommt diese Angst, nicht zu genügen, gerade bei denen, die sich so lange überlegt haben, ob sie das Muttersein wagen sollen oder nicht? Die Macht des Gewissens, das Gerüst unserer Gewohnheiten, das unseren Alltag aufrecht erhält, unsere Gesellschaft funktionieren lässt, die auf Anhieb weiß, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, sie bestimmt uns Frauen. Hannah Arendt setzt das Gewissen dem Grad der Angepasstheit gleich. Sind wir Frauen die angepassteren Menschen? Woran haben wir uns angepasst? An den steigenden Wohlstand?

Wenn Wohlstand als Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten Dritter definiert wird, dann sind wir Frauen für den Grad des Wohlstands in unserer Gesellschaft verantwortlich, allein durch unsere Geneigtheit, sich ausbeuten zu lassen und sich auch selbst noch auszubeuten. Denn mein Gewissen sagt mir, wie ich mich den anderen gegenüber zu verhalten habe, aber auch, was ich von mir selbst fordern muss. Die Gesellschaft hat die Frau Mut und angepassten Mut gelehrt. Selbstaufopferung und angepasste Selbstaufopferung. Das perfide an unserem Wohlstand ist, dass er sich ständig vergrößern muss, dass er ständig mehr will, dass er durch und durch ein kapitalistischer Wohlstand ist. Er will wachsen, sich mehren, größer werden. Er strebt nach Grenzenlosigkeit. Für sich, nicht für alle.

Wenn aber auch wir Frauen in diesem Wohlstand groß geworden sind, in diesem von uns selbst geschaffenen Wohlstand leben, warum entscheiden wir uns immer noch für das schlechte Gewissen? Statistisch gesehen steigt mit höherer Bildung auch die Wahrscheinlichkeit, sich als Mutter unglücklich zu fühlen. Denn unbestritten ist eine, die ständig unter einem schlechten Gewissen leidet, nicht glücklich.

Generationen von Männern und Machtmenschen hingegen, die eigene Nabelschau gewohnt, angefangen von der Bauchpinselei durch die Mutter, bis hin zur Ausbildung in einem Schulsystem, das uns lehrt, dass alles was wir sind und sein können, von Männern erschaffen wurde, bis hin zur treuen Anhänglichkeit der geduldigen Gefährtin, die sich jeder wünscht, haben offensichtlich kaum ein Gewissen. Ihnen sagt der Markt, was gut und böse ist. Und in der Zeitung lesen sie, dass Frauen Angst haben, nicht zu genügen. Wenn sie ihre Frauen also weiter bei der Stange halten wollen, genügt es, sich dieses latent schlechten Gewissens zu bedienen. Männer mögen kein Gewissen haben, aber stattdessen verfügen sie über ein hervorragendes Sensorium dafür, wo sie ihre Machtbestrebungen ausleben können.

#Dagg – Lesen, um zu Leben

Zäh kann sich das Leben gestalten. Das Leben oder das Lesen? Nur zäh komm ich mit der Juli Zeh voran. Das liegt daran, dass ich bei jedem dritten Satz “Über Menschen” hängenbleibe. Ich muss das Buch nur aufschlagen und weiterlesen wollen, schon kommt wieder so ein Satz. Ein Satz, der nach meinen Gedanken greift, der meine Muße zum Stolpern bringt. Juli Zeh beschreibt, wie sie ihre Zeit gerne als Leserin verbringen würde. Sie hat also dasselbe Problem wie ich!  Es gelingt ihr nicht, weil die individuelle Auseinandersetzung mit dem Text, das Lesevergnügen vollends ruiniert. Tatsächlich ist es so: Der Lesestoff zwingt mich in die Knie.

„Wenn das die conditio humana ist, was gibt es dann zu erreichen? Wenn selbst historisch einzigartiger Massenluxus nicht zu leidlichem Wohlbefinden führt, welche Aufgabe bleibt dann dem Fortschritt?“ ( Nachzulesen auf Seite 173 der festgebunden Ausgabe, die mir mein Buchhändler ohnehin nur sehr widerwillig aushändigte.)

Wahrscheinlich hat der Verkäufer mich deswegen vor dem Buch gewarnt. Das ist nichts für Leseanfänger, hat er gesagt. Dabei ist die Sache doch ganz anders gelagert. Ich finde, dass dieses Buch sich ausgezeichnet für Denkanfängerinnen wie mich eignet. Und je länger ich an dem Roman lese, desto mehr verstehe ich, dass Lesen nicht so viel Zeit braucht, weil ich langsam lese, sondern weil ich langsam denke. Oh Gott! Ich bin eine Denkanfängerin 40+!

Wenn das die conditio humana ist, dass das Denken schon Luxus ist, dann ist es doch wirklich kein Wunder, wenn Massen sich das nicht leisten können. Das Denken. Das Lesen. Alles muss schnell gehen. Da erstaunt es doch keinen Menschen, wenn ich eine Angststörung in Kombination mit einer Erschöpfungsdepression ausfasse.

Macron hat Le Pen auf den letzten Metern besiegt. Ein Sieg für Macron. Aber über die Menschen in Frankreich sagt das wenig aus, höre ich in den Nachrichten. Ich höre und verstehe nicht. Ist die Demokratie das Problem? Ich finde, das Hören noch schwieriger ist als Lesen. Und Verstehen ist schwieriger als Denken. Alles, was man selber tun muss, ist schwierig. Aber was ich wirklich tun muss, ist an meiner Kassa sitzen, die Artikel abpiepen und das Wechselgeld richtig herausgeben. Piep. Piep. Piep. Das macht mein Leben einfach. Wenn die Angst kommt, piepe ich sie einfach weg. Ich klappe mein Buch zu. Piep. Piep. Piep. Piep. Das bringt mir leidliches Wohlbefinden.

#Dagg: Wider die weibliche Verfügbarkeit

In der Wochenendausgabe meiner Zeitung habe ich eine Buchbesprechung gefunden: „Die Erschöpfung der Frauen“. Das hat mich sehr angesprochen. Der Untertitel lautet: Wider die weibliche Verfügbarkeit. Die Autorin, Franziska Schutzbach, eine in der Schweiz lebende Geschlechterforscherin, Soziologin und Publizistin, arbeitet sich an der modernen Frau ab. Sofort habe ich erkannt, dass das ein Buch für mich ist. Ich bin eine moderne Frau. Parallel zu Juli ZehÜber Menschen“ werde ich das gut lesen können. Denn Doras Erschöpfung in dem Roman hat doch wirklich ein gutes begleitendes Sachbuch verdient. Endlich kann sie einen Garten anlegen. Aber die Arbeit geht ihr nicht so von der Hand, wie sie sich das vorgestellt hat. Und ihre Nachbarn reagieren auf sie, die junge Frau aus der Stadt, mit Skepsis, Zurückhaltung, Ablehnung. Dora ist eine erschöpfte Frau. Ich auch.

Angesichts der Tatsache, dass ich allerdings innerhalb eines Monats über die ersten 50 Seiten von Julie Zeh nicht hinausgekommen bin und nun auch noch dieses zweite Buch neben meinem Lesesessel am Boden liegt, überkommt mich eine Art von Erschöpfungszustand, der weit über meine übliche Alltagsantriebslosigkeit hinausgeht. Wenn ich abends ins Bett falle, bin ich zu kraftlos, um eines der beiden Werke noch zur Hand zu nehmen. Da erscheint es mir doch wesentlich einfacher, es meiner Lieblingskundin gleichzutun. Sie erinnert mich immer wieder an das Labyrinth der Wörter, wenn sie in ihrem beigen Übergangsmantel neben dem Kassaband steht und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Nach wie vor kauft sie jeden Vormittag ein. Genau diese eine Flasche Wein, manchmal auch Brot oder andere reduzierte Lebensmittel. Nie mehr als drei Artikel. Piep. Piep. Piep. Sie steckt alles in ihre schäbige Stofftasche, die sie bestimmt schon hundert Mal gewaschen und vielleicht sogar geflickt hat. Billige Literware. Die beseitigt meine Erschöpfung nicht. Sie verbrämt sie nicht einmal. Sie erklärt sie mir allerdings auch nicht.

#Dagg

Tagebücher

Das Tagebuchschreiben ist ja keine neue Idee von mir, wie die Psychotante vielleicht glaubt. Ich habe schon als Jugendliche Tagebuch geschrieben. Jahrelang. Hefte voll von Gedanken. Als ich dann geheiratet habe, war mir das alles zu viel, das Denken. Beim Umzug habe ich meine Tagebücher entsorgt. Ich erinnere mich noch an das erhebende Gefühl, als ich 53 Hefte in den Sperrmüllcontainer entsorgt habe.

Das war der Tag, an dem ich die Liebschaft meines Mannes zum ersten Mal gesehen habe. Damals wusste ich das natürlich nicht. Ich war damit beschäftigt, meine Vergangenheit in hohem Bogen auf den Müll zu werfen, als eine junge Frau in unseren Hof trat und mich fragte, ob hier wohl Herr Hesch wohne. Ja, sagte ich, wir sind gerade eingezogen. Sind sie die Mutter, fragte mich die Frau. Und da wir ja einen gemeinsamen Sohn hatten, mein Mann und ich, bejahte ich das.

Sie wohnen auch hier, fragte sie mich weiter. Ja, natürlich, antwortete ich. Und wer sind Sie? Diese Frage ließ sie unbeantwortet, sah sich um, begutachtete mich, in meinem Jogginganzug, in Gummistiefeln, ein bisschen verdreckt, mit strähnigem Haar und aufgekrempelten Ärmeln.

Soll ich ihm was ausrichten, fragte ich weiter. Nein, antwortete sie. Danke, nein.

Eine Hübsche, mit blonden Locken. Heute würde ich viel dafür geben, meine alten Tagebücher noch einmal lesen zu können. Die Frau dreht sich um und ging. Als ich meinem Mann von der seltsamen Begegnung berichtete, meinte er, da habe wohl nur jemand nach dem Weg gefragt. Es sei eben meine Eigenart, alles überzuinterpretieren.

Wenn ich mir heute die ersten Folgen von Zelenskys “Diener des Volkes” ansehe, dann kann ich erkennen, wie ich in meine Rolle hineingerutscht bin. Erst hab ich den Hausdrachen nur gespielt. Und dann war ich es plötzlich wirklich. Ich wollte gar nie so sein. Ich bin in die Rolle hineingewachsen. Sie war mir auf den Leib geschrieben. Ich habe mich mit ihr identifiziert. Nur war ich, im Unterschied zu Zelinsky, nicht Präsident wider Willen, sondern mit einem Mal zuständig für ein Familienleben.

Der Hesch hat mir die Bankomatkarte fürs Familienkonto wenige Monate nach der Geburt unseres Sohnes abgenommen, weil ich zu viel ausgegeben habe. Das Familienkonto hieß nur Familienkonto, so lange ich verdient habe. Aptamil und Windeln, Strampelhosen und Fencheltee, dafür bin ich arbeiten gegangen. Wenn die organisierten Alleinerzieherinnen heute vorrechnen, dass ein Kind 900€ im Monat kostet, kann ich nur sagen: Das kommt ungefähr hin. Ohne Zusatzversicherung allerdings, ohne Sommerferiencamps und Zahnregulierung.

Ich war halt blöd. Deswegen hab ich meine Tagebücher auch weggeworfen. Vorher war ich ja noch blöder.

#Dagg Tiere Englands …

Journalstudio, Dienstag der 29. März. Verhandlungen zum Ukrainekrieg in der Türkei. Die Zuständigen für die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Länder und Bundesländer bitten um keine Diskussion über Quoten. Sehr seltsam. Niemand kann sich eine Gewinnausschüttung ohne Quoten vorstellen. Ein aliquoter Anteil des Gehalts geht für Steuern drauf. Wettquoten. Einschaltquoten. Importquoten. Abfallquoten. Für alles, was gerecht sein soll, gibt es Quoten. Aber eine Flüchtlingsverteilungsquote und eine Frauenquote brauchen wir mit Sicherheit nicht. Da genügt uns das Augenmaß voll und ganz. Österreichs Bauern suchen weiterhin dringend Kräfte für die Erdbeer- und Spargelernte. Je teurer die Arbeitskräfte, desto niedriger der Gewinn. Ein Job also, den vor allem Frauen und andere Ausländer annehmen sollten, um zur Gesellschaft etwas beizutragen.

Außerdem, so höre ich, besteht überhaupt kein Grund zu befürchten, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Das sagt fünf Wochen nach Kriegsbeginn der russische Außenminister. Warum fällt mir bloß Orwell ein? Welches Tier bin ich, auf dieser Farm der Tiere? Fragen über Fragen. Aber dunkel glaube ich mich, daran zu erinnern, dass noch drei Tage vor Kriegsbeginn hoch und heilig beteuert wurde, dass es niemals zu einem Überfall auf das Brudervolk kommen würde.

Anstatt sich mit der näheren Geschichte zu beschäftigen – mit dem, was vor drei Wochen oder drei Monaten oder auch vor drei Jahren war – diskutiert man mit Heftigkeit eine Fernseh-Watschen, die einer dem anderen gegeben hat. Um beim Tierreich zu bleiben: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ein Diskurs als Ersatzbefriedigung für einen anderen, viel dringenderen. Denn manche sind gleich und mache gleicher.

Meine Giséle kauft wieder täglich ihren billigen Wein. Sie spart bei sich selbst. Was man von hier aus sehen kann, sind das die alltäglich Dinge, die mich bewegen. Heute nehme ich mir nach der Arbeit auch einmal einen Liter von Giséles Lieblingströpfchen mit nach Hause. Prost!

Blütenpelz (@Anna Aldrian)

#Dagg

Du bist eine Heldin!

Die Therapeutin sagt zu mir: Du bist eine Heldin.

Sie sagt nicht: Sei eine Heldin! Sondern sie ist überzeugt davon, dass ich eine Heldin bin.

Was soll schon Heldenhaftes an mir sein? frage ich. Denk nach! Streng dich an! Nimm dein Tagebuch!

Der Schlacht meines Lebens stelle ich mich täglich. Wenn der Wecker läutet, stehe ich auf, auch wenn ich lieber im Bett bleiben möchte. Ich absolviere meine Arbeitszeiten laut Dienstplan. Den Dienstplan schreibe ich nicht. Aber ja, was zu tun ist, das mache ich. In meinem Inneren höre ich die Melodie: Working Class Hero von John Lennon.

Zeit habe ich eigentlich nie, oder gerade eben genug, um das zu erledigen, was getan werden muss. Meine Kinder sind nun erwachsen und meine Topfpflanzen vertrocknen nicht. Ich habe die Zeit mit meinen Eltern durchgestanden. Meine Kindheit. Im Nachhinein betrachtet, im Vergleich mit anderen, naja. Das ist alles sehr lang her. Meine Schulzeit war eigentlich nicht schlecht. Einmal davon abgesehen, dass sie mir nicht viel gebracht hat. Mit Matura und einem fast abgeschlossenen Studium arbeite ich an der Kasse. Es ist besser für mich, nicht zu viel zu wissen. Mit Klugscheißerei macht man sich nur Feinde. Das Leben wird schwieriger, wenn du immer das letzte Wort haben musst. Ich muss nicht.

Ich hätte öfters gern den Job gewechselt. Ab und zu hatte ich richtig große Pläne. Und dann war ich doch immer wieder froh, meinen Arbeitsplatz zu haben. Schließlich braucht man das Geld. Wer nichts hat, kann sich auch nichts erwerben. Es reicht gerade für das tägliche Leben. Auf meinem Konto bin ich nicht oft im Plus. Im Grunde genommen habe ich mir das Leben, das ich jetzt führe, auch erwartet. Ich wollte immer frei sein, mich unabhängig fühlen. Deswegen sitze ich seit dreißig Jahren an der Kasse.

Gestern hat meine Giséle, die mit der Stofftasche, eine Flasche Asti Spumante gekauft, Chips und Oliven. Diesmal keinen billigen Wein. Heute kommt meine Tochter! hat sie mir zugeraunt. Ich könnte schwören, sie hat mir sogar zugezwinkert. Ein feuchtes Blinzeln um ihre faltengesäumten Augen.

Ich sehe sie vor mir, wie sie ihre Wohnung aufräumt. Wie sie die Leerflaschen, die sich angesammelt haben, zum Altglascontainer bringt. Sie putzt und lüftet und macht das Badezimmer sauber, legt ein frisches Handtuch zum Waschbecken. Wenn ihre Tochter kommt, ist der Sekt eingekühlt und die Chips und die Oliven stehen in kleinen Schüsselchen am Tisch. Vielleicht hat sie ein Fotoalbum herausgelegt, um mit der Tochter Kindheitserinnerungen anzusehen. Die Tochter bringt ihr Blumen mit.

Ja. Wir sind Heldinnen! Die Heldinnen des Alltags.