Tag: #aufunddavon

Als ich nicht schlief

Als ich eines Nachts nicht schlief,

ging ich durch alle unsere Räume

mit dem waidwunden Blick

vom bald schon letzten Mal.

Jedes Detail war mir so lieb.

Der Sprung im Glas der Lampe,

die Krumen auf dem Tisch,

das Geschirr vom letzten Abend,

in der Spüle unsere Weingläser.

Dein ruhiger Atem drinnen,

aus dem ich heraustrat

und auf das schwarze Meer sah.

Es nickte mir Mut zu.

Ein allerletztes Mal.

Seelenstern und Weihnachtsdrachen

Puppchen, du bist mein Augenstern.

Puppchen, hab dich zum fressen gern.

Mein Vater singt das und wirbelt mich im Kreis.

Er liebt Operettenlieder.

Diese Erinnerung an meine Kindheit,

an meine heile Kindheit,

ist zu meinem Seelenstern geworden,

der in mir funkelt.

Je mehr Zeit verstreicht,

desto verklärter wird dieses Leuchten in mir.

Hätte ich diese Zeit nicht selbst erlebt,

diese ausgehenden Sechziger und anbrechenden Siebziger,

dann würde ich jauchzend miteinstimmen

in das Lied über die gute alte Zeit,

das die Ewig-Gestrigen so beharrlich singen.

Aber neben dem Seelenstern haben sich in mir auch Irrlichter erhalten.

Unwesen in trampelnden Stiefeln und unseligen Ledermänteln

lauern in meinen dunklen Winkeln.

Und da ist er auch auch: mein Weihnachtsdrache.

Der tanzt zu den Feiertagen durch die alten Familiengeschichten,

die ich den Kindern und Enkelkindern so gern auftische,

um ihnen zuverlässige Anhaltspunkte zu geben dafür,

woher wir kommen und wohin wir gehen.

Ja! Glaubt es nur! Das ist die wahre Frohbotschaft:

Der Seelenstern leuchtet, und der Weihnachtsdrache tanzt uns voraus.

Veränderung

Verändert sich etwas oder verändere ich mich, wenn sich etwas ändert?

Wenn unser Leben sich verändert, geraten wir außer Tritt. Eine kleine Verunsicherung, ein kleiner Sidestep. Alles anders! Plötzlich hätten wir es wieder gern so wie früher, auch wenn wir früher ganz schön eingespannt waren. Wie oft würden wir gerne das Rad der Zeit zurückdrehen. Aber die Worte sind gesprochen, die Tür ist zugeschlagen, die Chance ist vorbei. Oder: Die Kinder sind aus dem Haus, das Haus ist verkauft und die Ziffern auf dem Pensionsbescheid sind so lächerlich, geradezu entwürdigend. Sie sagen nichts über die Intensität unseres Engagements aus. Sie sagen uns lediglich, dass man uns für dumm verkauft hat. Mit unserem Einverständnis noch dazu! Und dann, ganz langsam, wird das Neue doch wieder zum Gewohnten. Und in diesem Gewohnten bleiben wir doch wieder die Alten. Das ist bis zu einem gewissen Grade erschreckend.

Als ich begonnen habe, das neue Lebensgefühl zu entdecken, entstanden Sehnsuchtsorte in mir, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Plötzlich war es an der Zeit. Und wo ich mir doch so viele Jahre nichts mehr gewünscht hatte, als Zeit zu haben, geschah nun folgendes: Ich wusste mit meiner Zeit nichts anzufangen. Zu sehr war ich meinen Tagesablauf gewohnt. Ich war es gewohnt, schon vor sechs Uhr aufzustehen und nützliche Handreichungen zu verrichten. In meinem neuen Umfeld war es nicht nur sinnlos, so früh aufzustehen. Nein. Es gab auch nichts Nützliches, was ich um diese Stunde hätte tun können. Und da war sie mit einem Mal. Die Zeit, die ich nie hatte. Und was jetzt?

Zuerst versuchte ich es mit Laufen. Das Laufen hat mir auf die Sprünge geholfen. Eigentlich habe ich aus Verzweiflung zu laufen begonnen. Um meine Durchschlafstörungen zu bekämpfen. Das hat gut funktioniert. Um zwei Uhr nachts zu laufen, das hatte viele Vorteile. Erstens sah mich niemand. Das heißt, ich trug wohl eine Warnweste, um nicht von irgendwelchen Discoheimkehrenden oder nächtlichen Paketzustelldiensten überfahren zu werden, aber anfänglich wollte ich nicht gesehen werden. Als das mit dem Schlafen wieder klappte, verlegte ich mich aufs Laufen in meiner Freizeit. Da lief ich aber schon ganz gut, musste nicht mehr alle paar Minuten schnaufend stehenbleiben, oder peinliche Gehpausen einlegen. Auch haben sich meine Nachbarn wohl daran gewöhnt, dass ich in Leggins und bunten Schuhen um die Ecke biege. Sogar meine Kinder und Enkelkinder haben meinen Spleen zur Kenntnis genommen. „Oma rennt!“

Meine Lauferfahrungen in Italien waren anders. Hier an der Küste kann ich nur am Meer entlang laufen. Die ideale Runde habe ich noch nicht gefunden. Dieselbe Strecke hin und zurückzulaufen passt nicht zu meinen bisherigen Vorstellungen von Laufen. Ich will im Kreis rennen, wiedererkennbare, ansprechende Runden.

Was fange ich also mit mir an, so früh am Morgen, wenn absolut niemand mehr in die Schule zu schicken ist, meine Therapeutin mir geraten hat, keine Mails vor acht Uhr zu beantworten und die Laufstrecke sich nicht zu einem Kreis schließen will? Das kann doch nicht so schwer sein. Endlich! Endlich Zeit zum Lesen. Ich lese auf Italienisch, damit sich meine Sprachkenntnisse verbessern, weil ich zwanghaft nutzenorientiert bin. Allein der Gedanke macht mir Stress. Ich muss eine Vokabelliste führen.

Also Tagebuch schreiben. Aber wie soll man morgens gut Tagebuch schreiben? Der gestrige Tag ist längst vorüber und der neue hat noch nicht begonnen. Gestern hat mich zum Beispiel jemand im Kreisverkehr angefahren. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und Aladin mit einem Ducato-Bus. Wir mussten die Polizei holen. Nicht so sehr, weil etwas passiert war, aber alle Beteiligten konnten nicht aufhören zu brüllen, gestikulierend wie wild ihr Schicksal zu beklagen. Keine sehr angenehme Erinnerung. Und was ich mit dem heutigen Tag anstellen werde, kann ich mir beim besten Willen noch nicht vorstellen. Es hat sich erwiesen, dass es praktisch so etwas wie eine Frustrationsgarantie gibt, wenn ich plane, denn jetzt ticken die Uhren anders. Erfolg ist hier, wenn man zu Mittag ein Sonnenbankerl ergattert, am besten im alten Hafen, oder sonst irgendwo mit gutem Ausblick und möglichst windgeschützt. Aber auch darin bin ich noch nicht wirklich gut.

In meinem Perfektionierungswahn bleibe ich also die Alte. Aber die Sache ist nicht ganz aussichtslos, denn mittlerweile schaffe ich es schon, bis nach acht zu schlafen, dann fein zu frühstücken, mich an den Laptop zu setzen und ihn rechtzeitig auszuschalten, wenn sich die Frage stellt: Na, welches Bankerl nehmen wir denn heute?