In Zeiten wie diesen dreht sich alles um Abstand. In den Sommergesprächen nehmen Politiker Abstand von den Versprechungen, die sie uns einmal gemacht haben. Das tun sie nicht, weil sie per se unzuverlässig sind, sondern sie changieren, weil die Zeit und die Umstände es gebieten. Der Anstand aber soll jedenfalls gewahrt bleiben. Der Draht zum Bürger und zur Bürgerin wird mit Feuerschalen und ähnlichem Kulissenhokuspokus heraufbeschworen.

Auch Eltern suchen liebevoll aber bestimmt Abstand von ihren Kindern, die ihnen dermaßen auf die Pelle gerückt sind, dass in der Freizeit sogar Wandern schöner ist, als den Start der Kinder ins neue Schuljahr zu planen. Alles, nur haltet uns die Schule vom Leib! Wer soll sich da noch auskennen. Jetzt, wo sich herausstellt, dass doch nicht nur die Alten an dem Virus sterben und Bildung sowieso nur vererbt ist, wird Homeschooling zum neuen Daydream. Albtraum. Wir belehren die Jungen. Wir belehren die Alten. Dabei wollten wir doch nur maximal ein paar Stunden pro Tag Beziehungspflege betreiben. Alle vierzehn Tage ein Wochenende, oder so. Plötzlich geht das nicht mehr?

Größer wird auch der Abstand zur Null auf dem Girokonto, denn die Lohnzahlungen, die entweder ganz oder doch nur etwas geringer ausgefallen sind in den letzten Monaten, können die Gaps am Konto nicht mehr abdecken. Im Überprüfen der immer größer werdenden Lücken bin ich draufgekommen, dass über meine Kreditkarten seit Jahren monatlich kleinere Beträge abgebucht werden, ohne dass es mir jemals aufgefallen wäre. Fahrlässig?

Ein sehr lieber Freund hat mich des Öftern vor solchen und ähnlichen Internetbetrügereien gewarnt, aber ich hielt ihn für paranoid. Er war der einzige Mensch, der schon vor Corona in Angst und Schrecken lebte. Er wusste, dass etwas Fürchterliches passieren wird, die Liebe uns nur trügt und wir alle dem Untergang geweiht sind. Auf seine Art hat er ja auch Recht behalten. Er befürchtet übrigens nach wie vor das Schlimmste.

Auf der Suche nach Abstand habe ich begonnen, recht viel Belletristik zu lesen, denn in Romanen und im erzählten Leben von real nicht existierenden Dritten, findet man sich leichter zurecht als in der aus den Fugen und über den Kontorahmen geratenen Abfolge von Tagen, in der ich feststelle, dass alles anders geworden ist. Nicht vielleicht plötzlich oder wegen Corona. Alles was ist, hätte sich wahrscheinlich auch ohne Corona ganz anders entwickelt als geplant. Und so nehme ich von meinen Zukunftsplänen Abstand, Abstand von meiner regelmäßigen unselbständigen Erwerbstätigkeit, Abstand von meinem Ersparten, denn das schmolz schon im Frühjahr dahin: Wie gewonnen, so zerronnen. Abstand von all meinen Versprechungen. Abstand von mir selbst.

Und um Abstand von meinen regelmäßig entsetzlichen Silvesterfeiern zu nehmen, greife ich beherzt zu, als mir auf der Flucht Julie Zehs Buch „Neujahr“ in die Hände fällt.

Mein Freund liest es auch und findet es zu lang. Die Story hätte man auf einem Viertel der Seiten erzählen können. Da mag er Recht haben. Die meisten Menschen könnten einem Tag nicht mehr abgewinnen, wenn er nur sieben Stunden hätte. Mit einem Viertel unserer Lebenszeit würden wir wahrscheinlich auch auskommen, um zu hinterlassen, was wir hinterlassen. Sei´s drum. Wer kommt schon gern mit einem Bruchteil aus?

Silvesterabend und Neujahrsmorgen verringern ihren Abstand, was mir Übelkeit, Nausea, verursacht. Ich bin schon richtig seekrank von der Dauerschleife, vom ewig sich wiederholenden Silvesterfeuerwerk und dem Wunsch danach, endlich ein neues Jahr und damit nicht weniger als ein neues Leben zu beginnen. Aber gewöhnlich bahnt sich in den Tagen zwischen Weihnachten und dem letzten Dezember eine schlingernde Weltuntergangsstimmung an. Wer an Flucht denkt, hat schon verloren. Wird mir diesmal der Himmel auf den Kopf fallen?

Nun fällt mir im Juli in Darmstadt die Julie Zeh in die Hände. Ein Omen! Diesmal bereite ich mich auf einen besseren Jahreswechsel vor, auf einen, der wirklich was verändert und mich nicht nur niederstreckt. Auf einen ohne nervösen Durchfall.

Julie Zeh schreibt über einen Mann. Traurig eigentlich, dass Männer fast immer über Männer schreiben, während Frauen fast ebenso immer über Männer schreiben und selbst Frauenliteratur sich hauptsächlich damit beschäftigt, was an den Frauen so langweilig ist, dass man Bücher über sie feministische Literatur nennen muss. Im Interview mit der Berliner Schaubühnenlegende Elke Petri in der jüngsten Ausgabe von Die Feministin in Leibnitz und der Piefke in Triest, kommen wir auch darauf zu sprechen: Warum gibt es so wenige große Schauspielerinnen? Weil es so selten große Frauenrollen gibt. Warum gibt es die so selten? Weil niemand Rollen für Frauen schreibt und die Frauen, die spielen könnten, bekommen ohnehin keine guten Verträge, wenn sie Kinder haben. Aber da sind wir Frauen halt aber auch ganz selber Schuld, denn wir sind es ja, die sich für Kinder entscheiden.

Mein Schwager hat immer gesagt: Frausein ist ein Gendefekt.

Und mein Freund sagt: Wieso jammerst du immer? In den letzten hundert Jahren hat sich doch total viel zum Positiven für die Frauen verändert.

Ja. Für mich zum Beispiel. Denn ich wurde gleichberechtigt in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts geboren und kann mich noch gut erinnern, wie ich beim Abwasch, es muss Mitte der Achtziger gewesen sein, mit meiner Mutter lautstark darüber diskutiert habe, ob Emanzipation und eine Frauenbewegung notwendig sind. Mein Vater und meine Brüder haben derweilen im Garten Schach gespielt und geraucht. Wenn sich nicht schon so viel geändert hätte, wäre es uns wahrscheinlich untersagt gewesen, unsere Angelegenheiten mit lauter Stimme zu besprechen. Damals war ich noch überzeugt davon, dass es zum weltpolitischen Konsens gehört, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.

Auch das Schachspielen und das Rauchen haben mich schließlich nicht weitergebracht. Was ich wirklich erreicht habe und zur Nachhaltigkeit beitragen kann ist, dass meine Kinder ganz vehement sagen: Nein, danke! Kinder will ich keine.

Logisch, sie kennen nur Eltern, die unter ihren Kindern leiden und das wird jetzt, mit dem ganzen Homeschooling noch einmal virulenter. Niemand wünscht sich das, was die eigene Mutter erlebt hat, 24/7 durchzumachen.

Also nehme ich Abstand von meiner Familie und lese Julie Zeh. Die AkteurInnen des Romans machen Urlaub auf Lanzarote. Wie Henning, der gehetzte Hauptdarsteller, versuche ich falsche Gedanken zu vermeiden. Ein Rückblende auf ein Ereignis in seiner Kindheit wird mit der ausführlichen Beschreibung der körperlichen Anstrengungen beim Radfahren herbeigestrampelt und peinlich genau ausgeführt, bis jede Faser wehtut. Wer sich dafür interessiert, woran sich Kinder erinnern und was Erwachsene ihren Kindern erzählen, damit sie später einmal zu den Eltern werden, die sie sind, ist mit diesem Buch gut aufgehoben. Wo Angststörungen und Panikattacken herkommen, klingt durch.

Wer keine Kinder hat, sich eher für Tierschutz oder Feuerwehrfeste ins Zeug legt, wird das Buch nicht unbedingt interessant finden, da primäre Bedürfnisse und die Sehnsucht nach der Geborgenheit des Ichs im Du im Vordergrund stehen.

Ich will nicht mehr verraten, als dass es mir sehr gefallen hat und Abstand nehmen von weiteren Spoilern. Lest selbst und schreibt mir, wie ihr es findet, oder was euch dazu einfällt!