müssen wir sie laut und kompromisslos einfordern.

Mit diesem Fazit schließt meine Tochter ihren Blogbeitrag zu Viva la Vulva im März und seit ich ihn gelesen habe, will ich zu diesem Thema etwas schreiben. Weil die Macht des Virus aber stark ist, ziehen Tage und Wochen ins Feld und nichts passiert. Es entsteht kein Blogbeitrag wie von selbst. Gedanken ziehen vorüber und werden verworfen, noch bevor sie überhaupt näher untersucht und gegliedert werden. Ausgangsbeschränkung hat Denkbeschränkung zur Folge.

Bei mir jedenfalls. Und da bin ich sicher nicht alleine.

Lemon tree, very pretty, …

Das Virus macht vor nichts und niemandem halt. Macht es uns alle gleich? Oder gibt es wieder einmal welche, die einfach gleicher sind? Ohne jetzt auf Zweitwohnsitz- oder MotorradbesitzerInnen und BaugewerblerInnen mit dem Finger zeigen zu wollen, hat es für mich den Anschein, als gäbe es welche, die nicht so sehr beschränkt in ihren Bewegungsfreiheiten sind, wie etwa CarearbeiterInnen, die im unentrinnbaren Verbund der neuerdings heiligen Kernfamilie leben. Die Kleinsten und Kleinen bleiben ebenso auf unabsehbare Zeit zu Hause kaserniert wie die Alten und Ältesten – und mit ihnen jene, die sie umsorgen. Diese Schichten hat uns das Virus bis auf weiteres vom Hals geschafft. Unsere Art mit „denen“ Solidarität zu zeigen, beschränkt sich darauf, sie dauerhaft auszugrenzen. Monatelang.

Weiß jemand, wie lang ein Monat für ein Kleinkind ist, oder für jemanden mit Demenz? Nein. Und wenn wir es uns annähernd vorstellen könnten, dann zucken wir mit den Schultern und sagen: „Es ist zu ihrem Besten.“ oder „Es ist zum Wohle der Gesellschaft.“ Aber was ist eine Gesellschaft anderes, als ein Biotop, also ein Platz, an dem sich Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und sich in ihm und ihn mit sich erhält? Unsere Gesellschaft ist ein großes Biotop mit sehr spezifischen, schwer auszukundschaftenden Zusammenhängen und Wechselwirkungen, wie uns die kleine Greta, die nun völlig in Vergessenheit geraten scheint, glaubhaft erklärte. „Dare you ….“ waren ihre Worte. Und wie haben wir sie in den letzten sechs Wochen umgesetzt?

Grottenhof Gänse

Wir sind zu Wohnraumverbraucherinnen entwirklicht worden, wie sie Alexander Mitscherlich in seinem Pamphlet: Die Unwirtlichkeit der Städte schon skizzierte. Flauten (in unserem Fall die Bildungs- und Aktionsflaute), schreibt Mitscherlich, „… wirken sich ungünstig auf die Steigerung des kritischen Bewusstseins aus. Wo keine affektive Anteilnahme besteht, wird sich kaum die Leidenschaft zur Gestaltung [der gesellschaftlichen Verhältnisse] und damit kein auf Präzision dringendes Problembewusstsein ausbreiten.“ Man pferche Menschen in uniformierte Häuser und Wohnblocks, „und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht. Denn diese Freiheit ist praktisch nirgendwo mehr erfahrbar. Wo keine Fantasie an der Gestaltung der Gruppenbeziehungen wirksam wird, wo die Dynamik dieser Beziehungen nicht beflügelt wird, da bleibt dem / der Einzelnen nur der Rückzug in archaisches Wunschträumen, das ohne starke Widerstände in dumpfes Handeln umgesetzt werden kann. Das kritische Bewusstsein wird erfolgreich überrumpelt.“

Was soll das alles heißen? Wir unsere Wachsamkeit auf die Probe gestellt? Dröhnen wir uns zu mit Maßnahmen? Oder frönen wir still unseren altbekannten Süchten?

Kommunikation ist alles

Wie in Altenheimen leben auch unzählige Kinder und haben wie beiläufig den Anschluss an die Gesellschaft verloren, weil in Zeiten, in denen kein Mensch mehr ohne E-Mails berufstätig sein kann, immer noch Haushalte ohne Internetzugang und ohne funktional passende Endgeräte existieren. Wir können diese Menschen nicht erreichen. Sie leben, als wären sie in Flüchtlingslagern interniert, ohne Zugang zu den Ressourcen, die für alle anderen Mitglieder unserer Gesellschaft Standard sind. In den Flüchtlingslagern ohne Wasser, ohne Desinfektionsmöglichkeiten, ohne Masken. Bei uns ohne PCs, ohne Kontakte zu gleichaltrigen BildungssprachlerInnen, ohne Möglichkeit dem Unterricht zu folgen, wohlgemerkt bei bestehender Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr. Wer seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, hören wir täglich, wird empfindlich gestraft. Und das System, das sehr wohl Menschen – und gar nicht wenige – zurücklässt? Dieses Versäumnis macht das Virus uns klar. Seit Wochen redet man darüber, wie man solche Kinder wieder ins Boot holen will – und nichts passiert. Alle hoffen, dass bald wieder alles „normal“ sein soll. Den Blutzoll des Virus, dass Alte verlassen sterben und Kinder aus bildungsfernen Haushalten ihre Zukunftschancen verlieren, nimmt man in Kauf. Tja, was soll man machen? Kann man solidarisch sein und wenn ja, mit wem?

Im Duden wird Solidarität als „unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“ definiert, schreibt Sofia in ihrem Blog, um dann auszuführen, dass feministische Werte jene sind, die der ganzen Gesellschaft zu Gute kommen, derzeit aber mit Füßen getreten werden.

Brennnesselernte

Je länger Corona regiert, desto klarer zeigt sich, dass wir zwar gleiche Werte und Ziele verfolgen, europäische Werte und Ziele, jene, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind oder die Verfassungsrang haben, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, dass aber die Anstrengungen die dahingehend unternommen werden, dass alle in Österreich lebenden Menschen diese Ziele auch anstreben können, durchaus enden wollend sind.

„Schau auf dich, schau auf mich!“ Das wird zunehmend der Slogan für eine Haltung, unhinterfragt hinzunehmen, was uns die Regierung gerade als opportun vor Augen führt. Und ansonsten sollen wir den Blick und die Stimme nicht erheben, wie Atwoods Magd, deren Lektüre in Zeiten wie diesen mehr als angesagt ist. Haben wir uns jahrelang gewundert, wie alles so und noch schlimmer werden konnte, als in Orwells 1984, so sehen wir nun, wie Frauen in eine Kultur gedrängt werden, die Atwood im Report der Magd schon vor 20 Jahren penibel beschrieben hat. Und auch dort kamen die Wende, die Regression, die strengen Maßnahmen zum Schutze der Gesellschaft, quasi über Nacht. Für die Entrechteten wurde viel geklatscht. Wer hätte das ahnen können? Déjà-vu!

Wir müssen uns also besinnen, auf Greta, auf unseren Hausverstand und unsere von der Werbung instrumentalisierte Hausverständin. Dare you! Ja! Wage es! Denken ist möglich. Veränderungen lassen sich planen. Und um mit einem Lieblingszitat meiner 1925 geborenen Mutter zu enden:

Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden;

es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun.

Wilhelm Meisters Wanderjahre III, Goethe