Sie gockeln in Versailles herum, sitzen in Antalya an großen Tischen hinter einem bombastischen Blumengesteck und sprechen über den Krieg in Europa. Es gibt einen Liveticker zu den Kampfhandlungen, der berichtet, dass die Hälfte der Menschen aus Kiew bereits geflohen ist. In der ZiB sehe ich Männer Plastiksäcke mit Leichen in Gräben werfen, die vielleicht einmal Schützengräben hätten sein sollen. Nun werden sie zu Massengräbern. Unsere Politiker wollen die Mehrwertsteuer auf den Benzinpreis aussetzen. Das hilft nur den Finanzkräftigen und den Konzernen, nicht den Menschen, die zur Arbeit fahren müssen, sagt Frau Schratzenstaller. Seit dem Weltfrauentag fällt mir auf, dass alle darüber reden, dass nun auch mehr Frauen sichtbar sind. Die Frau Schratzenstaller zum Beispiel. Mehr Frauen als wann? Als im Mittelalter? Schon durchschnittlich 5% der Musikerinnen bei Großevents sind in Österreich weiblich. Potzblitz! Gefühlt dürfte das wohl auch die Frauenquote in Versailles sein. So ein Krieg! Er dauert schon 14 Tage. Gut, dass meine Mutter das nicht mehr erlebt! Sie war eine Anhängerin der Vorratswirtschaft. Der Krieg kommt über Nacht, hat sie immer gesagt und gerne vom Keulenschwingen beim BdM erzählt. Im Keller stehen noch Einweckgläser von ihr, mit Kompott, Marmelade und Russenkraut aus den Achtzigerjahren. Relikte, die ich nicht zu entfernen wage. Die Urne mit ihrer Asche verwahre ich auf dem Bücherbord, neben Doktor Schiwago und Vom Winde verweht. Alkohol darf in der Ukraine nicht mehr verkauft werden. Bei uns geht der Alkohol weg wie die warmen Semmeln. Ich kenne meine Kundschaft. Die weniger Finanzkräftigen kaufen den billigen Alk. Manchmal denke ich mir Geschichten aus, zu den Leuten, die mir auffallen. Eine Frau, die mich an Gisèle Casadesus im Labyrinth der Wörter erinnert, trägt immer einen beigen Staubmantel und hat eine Einkaufstasche aus Stoff. Sie kommt fast täglich, vormittags. Erst wenn sie schon fast an der Reihe ist, zieht sie die Weinflasche aus dem Einkaufsbeutel und legt sie aufs Band. Selten kauft sie mehr als drei Artikel. Eine Flasche Wein ist immer dabei. Sie kauft Literware, um 1,69. Gestern hat sie mit einem schelmischen Zwinkern zu mir gesagt: „Mein Sprit ist jetzt billiger als der Saft an der Zapfsäule.“ In meiner Vorstellung geht sie nach Hause. Sie stellt die neue Flasche in den Kühlschrank und trinkt den Rest vom Vortag aus einem altmodischen, hochstieligen Glas. Vielleicht prostet sie sich auch selbst zu und ist froh, dass sie die schwierigste Aufgabe des Tages erledig hat. Den Einkauf. Der Tag ist gerettet. Sie würde mehr trinken, wenn sie mehr Wein zu Hause hätte. Aber ihre Selbstdisziplin, ihre Routine, ihr Weg zu meinem Supermarkt und ihre Rationen halten sie fit. Heute hat sie zum ersten Mal mit mir gesprochen. Ihre Stimme war spröde. Sie war ein bisschen aufgekratzt. Vielleicht hat sie den Rest von gestern heute schon vor ihrem Einkaufsspaziergang getrunken. Seit ihr Germain abhandengekommen ist, trinkt sie ab und zu auch auf ihn und auf Mütterchen Russland.