#Dagg

Tagebücher

Das Tagebuchschreiben ist ja keine neue Idee von mir, wie die Psychotante vielleicht glaubt. Ich habe schon als Jugendliche Tagebuch geschrieben. Jahrelang. Hefte voll von Gedanken. Als ich dann geheiratet habe, war mir das alles zu viel, das Denken. Beim Umzug habe ich meine Tagebücher entsorgt. Ich erinnere mich noch an das erhebende Gefühl, als ich 53 Hefte in den Sperrmüllcontainer entsorgt habe.

Das war der Tag, an dem ich die Liebschaft meines Mannes zum ersten Mal gesehen habe. Damals wusste ich das natürlich nicht. Ich war damit beschäftigt, meine Vergangenheit in hohem Bogen auf den Müll zu werfen, als eine junge Frau in unseren Hof trat und mich fragte, ob hier wohl Herr Hesch wohne. Ja, sagte ich, wir sind gerade eingezogen. Sind sie die Mutter, fragte mich die Frau. Und da wir ja einen gemeinsamen Sohn hatten, mein Mann und ich, bejahte ich das.

Sie wohnen auch hier, fragte sie mich weiter. Ja, natürlich, antwortete ich. Und wer sind Sie? Diese Frage ließ sie unbeantwortet, sah sich um, begutachtete mich, in meinem Jogginganzug, in Gummistiefeln, ein bisschen verdreckt, mit strähnigem Haar und aufgekrempelten Ärmeln.

Soll ich ihm was ausrichten, fragte ich weiter. Nein, antwortete sie. Danke, nein.

Eine Hübsche, mit blonden Locken. Heute würde ich viel dafür geben, meine alten Tagebücher noch einmal lesen zu können. Die Frau dreht sich um und ging. Als ich meinem Mann von der seltsamen Begegnung berichtete, meinte er, da habe wohl nur jemand nach dem Weg gefragt. Es sei eben meine Eigenart, alles überzuinterpretieren.

Wenn ich mir heute die ersten Folgen von Zelenskys “Diener des Volkes” ansehe, dann kann ich erkennen, wie ich in meine Rolle hineingerutscht bin. Erst hab ich den Hausdrachen nur gespielt. Und dann war ich es plötzlich wirklich. Ich wollte gar nie so sein. Ich bin in die Rolle hineingewachsen. Sie war mir auf den Leib geschrieben. Ich habe mich mit ihr identifiziert. Nur war ich, im Unterschied zu Zelinsky, nicht Präsident wider Willen, sondern mit einem Mal zuständig für ein Familienleben.

Der Hesch hat mir die Bankomatkarte fürs Familienkonto wenige Monate nach der Geburt unseres Sohnes abgenommen, weil ich zu viel ausgegeben habe. Das Familienkonto hieß nur Familienkonto, so lange ich verdient habe. Aptamil und Windeln, Strampelhosen und Fencheltee, dafür bin ich arbeiten gegangen. Wenn die organisierten Alleinerzieherinnen heute vorrechnen, dass ein Kind 900€ im Monat kostet, kann ich nur sagen: Das kommt ungefähr hin. Ohne Zusatzversicherung allerdings, ohne Sommerferiencamps und Zahnregulierung.

Ich war halt blöd. Deswegen hab ich meine Tagebücher auch weggeworfen. Vorher war ich ja noch blöder.

1 Comment

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  1. oh, was gäbe ich darum, die 53 verschollenen tagebuchhefte lesen zu dürfen!

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