#Dagg Atomkraftwerk

Das Tagebuch von Daggi Hesch bewegt mich immer wieder aufs Neue.

Die Kraft jedes Einzelnen reicht nur für ein paar Quadratmeter Welt, schreibt Juli Zeh. Und sie zitiert den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem gemäß Unordnung sich immer größtmöglich auszubreiten sucht. Ich frage dich, liebes Tagebuch, ist meine Angst vielleicht eine innere Unordnung, die genau diesem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entspricht, die sich größtmöglich ausbreitet? Sie vermischt sich mit all meinen Gefühlen und Gedanken und lässt mir keinen Raum, den ich in irgendeiner Weise ordnen könnte. Das führt dazu, dass nicht nur mein Garten sondern auch mein Haushalt schön langsam verwildert. Meine Gedanken kommen nicht mehr zur Ruh. Ich sehe die Bilder der Zerstörung und des Krieges, die flüchtenden Frauen und Kinder und ich frage mich, was aus all den Beschwörungen und Lobgesängen auf den Frieden geworden ist, die man in letzter Zeit immer wieder angestimmt hat. So lange hat es in Europa keinen Krieg mehr gegeben, wenn man vom Jugoslawienkrieg absieht. Und nun bombardiert Putin ein Atomkraftwerk, um es wenige Stunden später einzunehmen. Die Welt diskutiert, wie sie kurz zuvor über die Rückkehr der Taliban in Afghanistan diskutiert hat, über Trumps Sturm aufs Kapitol, über das kontinuierliche Ertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer. Was ist uns geblieben, außer über unfassbare Dinge politisch zu debattieren? Mit mir diskutiert niemand. Ich tippe und piepe tagein tagaus an meiner Supermarktkassa, nenne die Summe, die Menschen bezahlen. Wenn ich länger arbeite beklagt sich niemand, wenn ich später komme oder früher nach Hause gehen will, muss ich das genau erklären, als hätte ich gerade ein Atomkraftwerk bombardiert. Da geht es um was. Für mich wird es gefährlich. Das höre ich schon am Ton.

„Alles was wir haben, sind getroffene Entscheidungen.“ schreibt Natasa Kramberger, die Slowenin, die kürzlich im Bildungshaus Retzhof gelesen hat. Aber welche Entscheidungen habe ich schon getroffen? Vielmehr treffen die Entscheidungen anderer mich. Ich bin es, die sich getroffen fühlt. Nicht an den Sätzen hängenbleiben! Das Nicht-mehr-Mitkommen wird mir durch die Lektüre von Juli Zeh manifest. Weitermachen! Weiterleben!

#Dagg

Daggi Hesch versucht zu denken, was nicht immer leicht ist, wenn Frau im Alltag gefangen ist und mit wenig auskommen muss. Trotzdem freue ich mich, dass sie immer wieder kommt und ihr Tagebuch mitbringt.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Die Wiener:innen machen sich Sorgen um ihre Gas betriebenen Heizungen und wollen jetzt umrüsten. 6.000€ kostet das ungefähr pro Haushalt und wird von Stadt und Bund gefördert. Es scheint, der Ukrainekrieg bringt die besten Seiten Europas zum Vorschein. So einig war man sich seit Bestand der EU noch nie. Wir rücken zusammen. Nur Sobotka rückt ab, allerdings nur für diesen einen Ausschusstag, denn Peter Pilz hat angekündigt, neue Chat-Protokolle vorzulegen. Heute ist also wieder einmal ein großer Auftritt zu erwarten. Während, wie ich gestern in den Nachrichten gehört habe, der Drahtzieher Schmid schon längst nicht mehr in Österreich lebt und Kurz im Silicon Valley arbeitet. Väterkarenz, sozusagen.

Es ist halt, wie es immer ist. Die Bösen sind immer die Männer. Die Kriegstreiber sind immer die Männer. Aber die Guten sind auch immer die Männer. Sie verkaufen Fußballklubs und gründen damit Stiftungen, um Kriegsopfer zu unterstützen. Die Reichen sind Männer, die Jobgewinner sind Männer. Die Ausschussvorsitzenden sind Männer. Die wirklich interessanten Befragten sind Männer. Nur ein Mann kann auf die Idee kommen, die Mikros für alle Ausschussmitglieder abzudrehen, so dass keine unliebsamen Fragen mehr an den Bundeskanzler gestellt werden. Der ist übrigens auch ein Mann. Gut dass ich an der Kasse sitz. Dort sind wir zufällig lauter Frauen.

Seit ich an der Juli Zeh lese, habe ich Schmerzen im rechten großen Zeh. Wenn das nicht ein Zufall ist. Sie schreibt von ihrem Garten und nennt ihn „verwilderte Brachfläche“. Das ist schon der nächste Zufall, denn damit könnte sie auch meinen Garten meinen. Nicht nachdenken. Weitermachen. Immer wenn ich das lese, klappe ich das Buch wieder zu und frage mich, wann ich eigentlich das letzte Mal etwas Sinnvolles gedacht, richtig nachgedacht habe. Nicht nachdenken. Weiterlesen. Aber dann ist es schon halb 8. Es beginnt die ZiB und ich schalte wieder ein.

#Dagg: Carmen Herrera

Daggi Hesch stellt mir einen weiteren Tagebucheintrag zur Verfügung. Wie ich mittlerweile erfahren habe, arbeitet sie im Supermarkt, im Kaufpark an der Kasse. Sie sagt: Beim Krieg ist es wie beim Virus vor zwei Jahren. Da haben auch alle gedacht, das ist was irgendwo in China. Das geht ja uns nix an. Und auf einmal waren wir alle mittendrin. Ich hör ja den ganzen Tag, was die Leute reden, an der Kassa.

Meine Therapeutin hat mir geraten Tagebuch zu führen. Ich soll mich besser kennenlernen, um zu erkennen, wann die Angst über mich kommt. Ich soll mich mit mir selbst auseinandersetzen, mir aufschreiben, was mir auffällt. Mir fällt aber nichts auf. Was schreibe ich also?

Alle Medien sind voll mit dem Ukraine-Krieg. Russland hat seine Atomsprengköpfe in Stellung gebracht. Menschen sind auf der Flucht. Schreckliche Bilder! Die Benzinpreise sind gestiegen, so dass ich das erste Mal richtig froh bin, seit 12 Jahren kein Auto mehr zu haben, das ich mir auch schon damals nicht leisten konnte.

Im Morgenjournal habe ich einen Beitrag über die Madrider Kunstmesse gehört. Wie gerne würde ich einmal wieder verreisen, die Kunstwelt der Tirolerin Eva Schlegel sehen. Man hat sich in Madrid diesmal für „Frauen und Kunst“ als Motto entschieden, um historisches Unrecht wieder gut zu machen. Und daher sind 40% der ausgestellten Werke von Frauen. Zum Lachen ist das. Die prominenteste Galeristin kommt dann zu Wort, und was sagt sie: „Da bin ich aber ganz, ganz böse! Bei Kunst ist es doch ganz egal, von wem sie stammt, ob von Mann oder Frau. Kunst ist Kunst.“ Wahrscheinlich sind deswegen alle Museen voll mit namhaften Malern, Künstlern, Fotografen, Musikern. Weil es keine Frauen gibt, die dazu in der Lage waren, mit einem Goethe, Warhol, Bach mitzuhalten. Oder sollen die dummen Morgenjournal-Hörer:innen glauben, Frauen sind halt nicht so kreativ. Sie sind ja auch in Politik und Wirtschaft nicht präsent. Mein Erfolg besteht darin, dass ich seit 30 Jahren beim selben Arbeitgeber Teilzeit arbeite. Kaum war die Madrider Kunstmesse eröffnet, hat auch schon ein erster Sammler ein Werk um 58.000 Euro erstanden. Sogar zum Kunstkaufen sind sie zu ungeschickt, die Frauen. Wie gut, dass ich mir immer das Morgenjournal anhöre.

Ich habe Ani Gülgün Mayr auf fb geschrieben, denn vor nicht zu langer Zeit hab ich in ORF III einen Bericht gehört, über eine Malerin, die ihr erstes Bild mit 89 Jahren verkauft hat. 105jährig wurde sie dann in die Akademie der Künste aufgenommen. 106jährig ist sie verstorben. Gerade noch die Kurve gekratzt, sage ich da. Aber googeln kannst du sie nicht, wenn du ihren Namen nicht weißt. Deswegen zitieren sich Männer so gern gegenseitig. Hören sich gerne miteinander voneinander sprechen. Lesen einander gerne. Um nicht in Vergessenheit zu geraten. Immerhin gibt es einen Wiki-Eintrag über Carmen Herrera, den ich dank Ani Gülgün Mayr dann lesen konnte.

#Dagg

Eine Frau hat mir heute ihren Tagebucheintrag zur Verfügung gestellt. Ich nenne sie Daggi Hesch. 13intéressant:

Ich halte die Nachrichten nicht mehr aus. Draußen will der Frühling kommen und im Kastl ist Krieg. Nicht schlimm genug, dass ich nun zwei Jahre lang Corona News gelesen, gehört und gesehen habe. Eine Berichterstattung liefert tagesaktuell Zahlen, nach denen wir nun geradezu süchtig sind. Gegipfelt hat der ganze Pandemie-Irrsinn in olympischen Spielen, ausgerechnet in China. Als wäre es das Normalste der Welt, wurde neben den Corona-Zahlen auch der Medaillenspiegel täglich upgedatet. Und pünktlich zum Ende der Spiele beginnt in der Ukraine ein Krieg. Die EU spricht von Lieferketten, die fairen Handel garantieren sollen. Mein Konto ist überzogen, weil ich noch einmal Holz kaufen musste. Ohne Auto kann ich leben. Aber erfrieren will ich nicht. Wir sollen einen Gutschein bekommen, für den Heizkostenzuschuss. Am rechten Schienbein habe ich eine Wunde, weil mir beim Holzhacken eines der Scheiter gegen das Bein gekracht ist. Ich habe gedacht: Das gibt einen blauen Fleck. Aber beim Schlafengehen habe ich das eingetrocknete Blut entdeckt. Ich hab mir ein dickes Buch gekauft. Juli Zeh: Über Menschen. Letzten Endes ist mir unerklärlich, wie Bücher uns finden. Aber irgendwie habe ich schon nach den ersten Seiten den Eindruck, die Dora aus dem Buch und ich, wir haben etwas gemeinsam. So wie Dora muss auch ich immer nachdenken, wie alt ich nun schon bin. So wie Dora bin ich auf der Suche nach dem Erfolgserlebnis. So wie Dora bedroht mich die existentielle Chancenlosigkeit. So wie Dora bringt mich der rechte Winkel ins Schwitzen.

Veränderung

Verändert sich etwas oder verändere ich mich, wenn sich etwas ändert?

Wenn unser Leben sich verändert, geraten wir außer Tritt. Eine kleine Verunsicherung, ein kleiner Sidestep. Alles anders! Plötzlich hätten wir es wieder gern so wie früher, auch wenn wir früher ganz schön eingespannt waren. Wie oft würden wir gerne das Rad der Zeit zurückdrehen. Aber die Worte sind gesprochen, die Tür ist zugeschlagen, die Chance ist vorbei. Oder: Die Kinder sind aus dem Haus, das Haus ist verkauft und die Ziffern auf dem Pensionsbescheid sind so lächerlich, geradezu entwürdigend. Sie sagen nichts über die Intensität unseres Engagements aus. Sie sagen uns lediglich, dass man uns für dumm verkauft hat. Mit unserem Einverständnis noch dazu! Und dann, ganz langsam, wird das Neue doch wieder zum Gewohnten. Und in diesem Gewohnten bleiben wir doch wieder die Alten. Das ist bis zu einem gewissen Grade erschreckend.

Als ich begonnen habe, das neue Lebensgefühl zu entdecken, entstanden Sehnsuchtsorte in mir, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Plötzlich war es an der Zeit. Und wo ich mir doch so viele Jahre nichts mehr gewünscht hatte, als Zeit zu haben, geschah nun folgendes: Ich wusste mit meiner Zeit nichts anzufangen. Zu sehr war ich meinen Tagesablauf gewohnt. Ich war es gewohnt, schon vor sechs Uhr aufzustehen und nützliche Handreichungen zu verrichten. In meinem neuen Umfeld war es nicht nur sinnlos, so früh aufzustehen. Nein. Es gab auch nichts Nützliches, was ich um diese Stunde hätte tun können. Und da war sie mit einem Mal. Die Zeit, die ich nie hatte. Und was jetzt?

Zuerst versuchte ich es mit Laufen. Das Laufen hat mir auf die Sprünge geholfen. Eigentlich habe ich aus Verzweiflung zu laufen begonnen. Um meine Durchschlafstörungen zu bekämpfen. Das hat gut funktioniert. Um zwei Uhr nachts zu laufen, das hatte viele Vorteile. Erstens sah mich niemand. Das heißt, ich trug wohl eine Warnweste, um nicht von irgendwelchen Discoheimkehrenden oder nächtlichen Paketzustelldiensten überfahren zu werden, aber anfänglich wollte ich nicht gesehen werden. Als das mit dem Schlafen wieder klappte, verlegte ich mich aufs Laufen in meiner Freizeit. Da lief ich aber schon ganz gut, musste nicht mehr alle paar Minuten schnaufend stehenbleiben, oder peinliche Gehpausen einlegen. Auch haben sich meine Nachbarn wohl daran gewöhnt, dass ich in Leggins und bunten Schuhen um die Ecke biege. Sogar meine Kinder und Enkelkinder haben meinen Spleen zur Kenntnis genommen. „Oma rennt!“

Meine Lauferfahrungen in Italien waren anders. Hier an der Küste kann ich nur am Meer entlang laufen. Die ideale Runde habe ich noch nicht gefunden. Dieselbe Strecke hin und zurückzulaufen passt nicht zu meinen bisherigen Vorstellungen von Laufen. Ich will im Kreis rennen, wiedererkennbare, ansprechende Runden.

Was fange ich also mit mir an, so früh am Morgen, wenn absolut niemand mehr in die Schule zu schicken ist, meine Therapeutin mir geraten hat, keine Mails vor acht Uhr zu beantworten und die Laufstrecke sich nicht zu einem Kreis schließen will? Das kann doch nicht so schwer sein. Endlich! Endlich Zeit zum Lesen. Ich lese auf Italienisch, damit sich meine Sprachkenntnisse verbessern, weil ich zwanghaft nutzenorientiert bin. Allein der Gedanke macht mir Stress. Ich muss eine Vokabelliste führen.

Also Tagebuch schreiben. Aber wie soll man morgens gut Tagebuch schreiben? Der gestrige Tag ist längst vorüber und der neue hat noch nicht begonnen. Gestern hat mich zum Beispiel jemand im Kreisverkehr angefahren. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und Aladin mit einem Ducato-Bus. Wir mussten die Polizei holen. Nicht so sehr, weil etwas passiert war, aber alle Beteiligten konnten nicht aufhören zu brüllen, gestikulierend wie wild ihr Schicksal zu beklagen. Keine sehr angenehme Erinnerung. Und was ich mit dem heutigen Tag anstellen werde, kann ich mir beim besten Willen noch nicht vorstellen. Es hat sich erwiesen, dass es praktisch so etwas wie eine Frustrationsgarantie gibt, wenn ich plane, denn jetzt ticken die Uhren anders. Erfolg ist hier, wenn man zu Mittag ein Sonnenbankerl ergattert, am besten im alten Hafen, oder sonst irgendwo mit gutem Ausblick und möglichst windgeschützt. Aber auch darin bin ich noch nicht wirklich gut.

In meinem Perfektionierungswahn bleibe ich also die Alte. Aber die Sache ist nicht ganz aussichtslos, denn mittlerweile schaffe ich es schon, bis nach acht zu schlafen, dann fein zu frühstücken, mich an den Laptop zu setzen und ihn rechtzeitig auszuschalten, wenn sich die Frage stellt: Na, welches Bankerl nehmen wir denn heute?

Früher aufstehen!

Oft fällt es mir wirklich schwer, in Bewegung zu bleiben.

Es gibt so viele gute Gründe, in der Ruheposition zu verweilen. An erster Stelle rangiert da natürlich Bequemlichkeit. Wie bequem ist es doch, einfach noch ein bisserl im Bett liegen zu bleiben. Besonders wenn ich am Vortag spät ins Bett gekommen bin, oder wenn ich schlecht geschlafen habe, aus Sorgen, der senilen Bettflucht wegen, weil ich zu viel und zu spät gegessen habe, nach einem Streit mit Mitwohnenden. Oder sind das etwa schon lauter den Fortschritt lähmende Ausreden und gar keine guten Gründe für Bequemlichkeit?

πάντα ῥεῖ, panta rhei, alles fließt. Ich bezweifle das.

Denn wenn dem so wäre und alles flösse, gingen uns denn dann nicht so manche Veränderungen viel leichter von der Hand? Wir würden viel freudiger in den Tag springen, denn wir wären nicht bis weit nach Mitternacht vor dem Fernseher gesessen, hätten nicht ohnehin schon ausreichend alkoholisiert auch noch einen letzten Grappa getrunken und dazu noch die letzte Zigarette aus der Schachtel geraucht, die doch für die ganze Woche hätte reichen sollen.

Bitte wo? Wo fließt alles? Diese dem Heraklit zugeschriebene Aussage bringt mich seit Jahrzehnten zum Nachdenken, weil sie wahrscheinlich nicht von Heraklit sondern von dessen Frau stammt. Aber wie viele bedeutungsschwere Redewendungen von Altgriechinnen sind uns schon überliefert? Wenn ich an diesem Punkt meines Philosophierens in Rage komme, bewegt sich dann doch etwas. Es macht mich krank, dass alles Überlieferte von Männern überliefert ist. Als wären die Altgriechinnen besonders schweigsame Frauen gewesen. Dabei war es sicher vielmehr so, dass die Abwasch in Heraklits Haushalt undicht war. Heraklits Frau, sich selbst überlassen, mit einem Berg von Geschirr vom Wochenende, den Kindern, die die Hausübungen nicht selbständig machen und die Schulsachen für den Montag nicht packen wollen, möchte eigentlich gern das Kleinste zu Bett bringen. Es quengelt und brüllt (je nachdem was der Energiepegel hergibt) schon seit Stunden vor Müdigkeit. Heraklits Frau wendet sich total genervt an ihren Mann, weil der die Abwasch noch immer nicht repariert hat und faucht: „Alles fließt! Wie oft soll ich dir das noch sagen?“

Aber Heraklit, der das Abendchaos auch schlecht aushält, flieht in sein Arbeitszimmer, anstatt endlich das Rohr abzudichten. Überfordert mit sich selbst und der Situation, in die er sich selbst durch mangelndes Engagement gebracht hat, setzt er sich an seinen Schreibtisch und schreibt hundertmal: Alles fließt.

Ich hingegen schreibe hundertmal an die Kleine Zeitung, an Ö1, an Frau Heidenreich, die die Bestsellerlisten für den Spiegel erstellt, dass man doch bitte mehr Frauen mediale Öffentlichkeit bieten, sie wiederholt zitieren möge. Lasst sie doch zu Wort kommen! Einfach der Gerechtigkeit wegen! Das Beispiel mit Heraklits Frau führe ich dabei gar nicht erst ins Treffen. Wer liest schon gerne so viel Text auf einmal? Wenn man mir antwortet – und das kommt selten genug vor – antworten mir meistens Frauen, im Auftrag der Redaktion oder selbst im guten Glauben, dass im Vergleich zu früher doch nun schon viel, viel mehr Frauen nicht nur zu Wort, sondern auch zu Ruhm und Ehre kommen. Ich weiß nicht, warum man mir das immer wieder schreibt. Will man mich damit besänftigen? Will man mich in den Wahnsinn treiben?

Früher? Früher war gestern. Und das bringt mich auf die Palme. Ich verfasse sofort ein weiteres Schreiben, diesmal an Herrn Liessman, oder wohl eher an seine Sekretärin, denn ich denke, dass Herr Liessman, unser Paradephilosoph denken und schreiben lässt und noch keinen meiner Einwände tatsächlich jemals persönlich studiert hat. Das mache ich ihm auch gar nicht zum Vorwurf, denn wer bin ich schon? Aber die Chance, dass ich als Frau in Österreich einen Namen habe, den Herr Liessmann kennt, ist verschwindend gering. Ok, nicht so gering wie früher. Aber immer noch gering.

Liessmanns Sekretärin antwortet mir, dass es doch auch eine Philosophin gäbe, die ab und an in der Kleinen abgedruckt werde: Lisz Hirn. Und sie schickt mir den QR-Code für ihren Podcast. Ich höre mir die Folge an und Lisz Hirn beginnt damit, dass wir – wenn wir etwas nicht verstehen – die Schuld bei uns selbst suchen sollen. Wir sollten uns eben gerade nicht auf die Palme bringen lassen und versuchen, die gegnerischen Argumente zu verstehen. Das raubt denen nämlich die Durchschlagkraft und erlaubt uns, neue Perspektiven zu entwickeln und viel tiefer in ein Thema einzudringen. Ein sehr weiblicher Denkansatz, wie ich meine. Den hab ich bei Liessmann noch nie gefunden und auch bei Peter Strasser nicht, der mir in Humor und Selbstkritik, weit mehr zu bieten hat als andere Philosophen – aber halt auch ein gern abgedruckter Mann ist. Mein ehemaliger Philo-Professor, sage ich heute stolz. Ach, ich werde ebenso vergessen sein, wie Heraklits Frau, seine Geliebte und seine Studentin!

Da lob ich mir den ARD Polizeinotruf von Sonntag. Eine Milieustudie vom Feinsten an der deutsch-polnischen Grenze. „Hildes Erbe“ heißt die Folge. Tatja Seibt in einer beeindruckenden Frauenrolle. Wie viele tolle Frauen, Schauspielerinnen, Komponistinnen, …. kennen wir eigentlich? Tatja Seibt ist 1944 geboren und von der weiblichen Altersunsichtbarkeit bedroht. Wäre Heraklits Frau Teil der #metoo-Bewegung gewesen, hätte man ihrer auch öfter gedacht als heute. Wir würden auch ihren Namen in unseren Schulgeschichtsbüchern finden. Sie hatte leider nicht die Chance von Tatja Seibt, so richtig berühmt zu werden. Die Frage bleibt, ob sie diese Chance denn genutzt hätte. Damals jedenfalls hat sie sich dazu entschieden, die Abwasch selbst zu reparieren und möglichst bald ins Bett zu gehen, damit sie am nächsten Tag wieder voll durchstarten kann.

Gewohnheiten verlassen uns nicht

Als Kind haben mich meine Eltern zum Wandern animiert, gewissermaßen könnte man sagen, sie haben mich dazu gezwungen, denn sie haben das Wandern geliebt und mich natürlich mitgenommen. Wie viele Kilometer bin ich in meiner Kindheit grummelig und missmutig gegangen. Wie viele Stunden war ich ohnmächtig wütend, weil ich ganz und gar nicht durch Wald und Feld ziehen wollte. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen, Gipfel zu erklimmen. Schnaubend bin ich durchs Gelände gestapft, fest entschlossen, als Erwachsene meine Freizeit nicht mit irgendwelchen sinnlosen Märschen zu verplempern. Wozu jemand aufbrechen sollte, um nach kürzerer oder längerer Zeit doch wieder nur zum Ort des Ausgangs zurückzukehren, erschloss sich mir in keinster Weise. Daher stiefelte ich missvergnügt und brummig hinter meinen Eltern her, bis wir an einen Bach kamen oder ich einen Schmetterling entdeckte, auf einen seltsamen Stein stieß oder mich schlicht darauf freute, bald wieder zu Hause zu sein und weiß Gott was Besseres zu machen.

Wenn ich heute schlechte Laune, ein enttäuschtes Herz oder einen misslungenen Arbeitstag hinter mir habe, mich ohnmächtig oder schlecht behandelt fühle, ziehe ich meine Wanderschuhe an, denn dieses Gefühl des unzufrieden Seins und das sich Fortbewegen im Freien gehören in meinem Leben unverbrüchlich zusammen. Ich marschiere forsch los und so übellaunig ich auch sein mag, je länger ich gehe, desto leiser wird das Rumoren in mir.

Ich könnte nicht sagen, ob ich dabei vor mir selbst davon oder mir nachrenne, aber allein das sich Wegbewegen von allem, was den Alltag ausmacht, schafft eine Distanz, die sich auch im Denken breit macht. Plötzlich kommen über den Anblick zweier Schafe im Weingarten Erinnerungen über mich, die mir ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Das Wasser aus dem Trinkbrunnen schmeckt so frisch, dass ich an eine Almwanderung in einem längst vergangenen Sommer denken muss, bei der die Kinder noch klein waren. Ich erklimme die Aussichtswarte und sehe die Nebel ziehen, die nach dem Regen aus dem dunklen Wald aufsteigen, als wollte der Herbst schon Einzug halten. Es ist, als wollten alle Sommer, die ich je erlebt habe, an mir vorüberziehen.

Nach der Kur ist vor der Kur

Wie lang ist meine Kur schon her? Gefühlt: ein halbes Jahrhundert. Die Arbeit hat mich fest im Griff. Effizienz im Tun und Denken fordert nicht nur die deutsche Noch-Kanzlerin. Ich bin am Limit! Sicher. Ich bin immer noch meines eigenen Glückes Schmiedin, aber bei diesen Temperaturen, unter diesen Arbeitsbedingungen, in Zeiten wie diesen, ist ein Transpirationsgrad erreicht, der einen nahenden Herzstillstand vermuten lässt.

Was aber ist aus den von mir beobachteten Kurgastcharakteren geworden?

Die Ehrgeizigen: Sie sind so wie ich, ohne zeitlichen Aufschub zurückgekehrt, an ihren angestammten Arbeitsplatz, gewillt, doppelt und mehr zu leisten, um die durch die Kur versäumten Arbeitsstunden wieder einzubringen. Ihre BürokollegInnen haben der Ehrgeizigen Kurheimkehr nicht ganz uneigennützig gefeiert. Nun lässt sich Unliebsames wieder auf dem Schreibtisch der von der Kur Erholten türmen.

Die Flüchtenden: Für sie hat alles Kurungemach ein Ende gefunden, um den Preis, dass nun wieder vor Ort geleistet werden soll. Sie haben es immer schon gewusst und fühlen sich nun auch bestätigt: Ihre Flucht heißt Leben und findet so schnell kein Ende.

Die BesserwisserInnen: Sie haben den Kurerfolg eingefahren und wissen nun, welche Kur besser für sie geeignet gewesen wäre. Bei der Besprechung des Kurbefundes mit dem Hausarzt / der Hausärztin bringen sie ihre Erkenntnisse vor und füllen vor Ort einen neuen Kurantrag aus. Sollte eine Folgekur nicht möglich sein, begeben sie sich unverzüglich in eine zusätzliche Therapie oder beantragen eine Reha.

Die DurchschummlerInnen: Sie tun so, als wären sie gar nie auf Kur gewesen. Ihr Gesundheitszustand hat sich tatsächlich nicht verändert. Sie gehen jetzt wieder so früh zu Bett, wie es eigentlich die Kurvorschriften von ihnen verlangt hätten. Pünktlich sind sie weiterhin nur zu Dienstschluss. Sie hören sich am Arbeitsplatz um, wer wo wann auf Kur war, sind aber vorerst einmal froh, wieder ihren alten Gewohnheiten nachgehen zu können: Zucker zum Kaffee, ab und zu ein Zigarettchen, Minijägermeister in der Handtasche.

Die Wichtigen: Sie kommen als Stars von der Kur zurück und erzählen am Arbeitsplatz ausführlich davon, wie anstrengend so eine Kur eigentlich ist. Es entsteht der Eindruck, sie hätten in Tokyo an den Olympischen Spielen teilgenommen. Sie gehen allen im Büro mit dem auf der Kur Gelernten auf die Nerven.

Für mich gestalten sich die Rückverrechnung und Kostenübernahme mit der Zusatzversicherung schwierig. Wahrscheinlich ist es am besten, jetzt erst einmal auf Urlaub zu fahren, bevor der Corona-Vorhang wieder zugeht.

Warum die moderne Philosophie versagt.

Precht, Liessmann und Konsorten denken medial nach. Frauen natürlich mitgemeint.

„Es wird eine neue Gesellschaft entstehen.“ Das dachten Frauen schon vor mehr als hundert Jahren, als sie das Wahlrecht erkämpften, lieber Herr Precht. Frauen als Konsumentinnen, als Care-Arbeiterinnen, als Reprotuktionsnotwendigkeiten, ok. Aber genannt sollen sie nicht werden, weil sich dann der alte weiße Mann diskriminiert fühlt? Und wodurch fühlt er sich diskriminiert? Dadurch, dass man ihn öffentlich alten, weißen Mann nennt, obwohl er doch PoC ist. Ich traue meinen Augen nicht, wenn ich auf die Doppelseite der Kleinen Zeitung, meiner Kleinen Zeitung, die ich seit 30 Jahren von meinem sauer verdienten Lohn bezahle, blicke. Sie, Herr Precht, sind der Lieblingsautor meines jüngsten Sohnes, der kurz vor der Matura die – Ihrer Ansicht nach berechtigte Frage stellt: Ist meine Mutter eine Menschin? Ihr Leben lang kämpft sie haupt- und nebenberuflich, aber auch ehrenamtlich, für Geschlechtergleichstellung, sogar in der Sprache. Darf ich essen, was sie kauft, wenn ich finde, dass sie ihr Geld mit Rassismus verdient?

Jeder Konsument kann Druck ausüben, und das tut er, wenn er Ihre Bücher kauft. Er übt Druck auf mich aus. Finanziellen, emotionalen und politischen. Und meine um Moral bemühte, regionale Tageszeitung druckt das, damit ich ein schönes Sonntagsinterview lesen kann, am Tag des Herrn.

Da blättere ich rasch weiter und gelange zur Doppelseite Kultur. Der hellsichtige Roman: „Der ehemalige Sohn“ ist hier das Thema. Werner Krause schreibt über Sasha Filipenko und der schreibt über Lukaschenko.

Als uns an der Uni über die Macht des Zitierens doziert wurde, dass es darauf ankommt, wer wen wie oft zitiert, war mir nicht auf Anhieb klar, was es bedeutet, wenn Männer vornehmlich Männer in Quellenverzeichnissen nennen. Aber im Laufe meiner Leserinnenkarriere und als 55jährige Teilzeitkraft beginne ich langsam zu verstehen, wie der Hase läuft.

Der Essay der Woche kommt von unser aller Liessmann: „An die Ungebildeten“. Die Sippenhaftung wird beklagt. Dass Männer nun plötzlich schon beim ersten Satz, den sie schreiben, darüber nachdenken sollen, was ihnen alles vorgeworfen werden kann, obwohl das in all den vergangenen Jahrhunderten seit Erfindung des Buchdrucks niemals so war. Ja, werter Herr Liessmann. Das ist allerdings eine Zumutung der besonderen Sorte. Frauen müssen nie über irgendwas nachdenken, sie können schreiben, was sie wollen, denken was sie wollen, machen was sie wollen. Laufhäuser besuchen oder Bürgermeisterinnen werden. Wer muss auch schon darüber nachdenken, was aus dem Kind wird, das man in neun Monaten Schwangerschaft mit sich herumträgt? Lohnt es sich, mit den Verächtern zu kommunizieren, fragt Liessmann. Das vielleicht nicht. Aber es bleibt uns auch nicht erspart.

Die Philosophie als solche liebt vor allem den Gedanken und das Denken und nicht die selbstherrlichen Vordenker.

Kurerfolg

Zwei Drittel meiner Kur sind vorüber. Jetzt durchbeißen! Nur nicht den Kurerfolg gefährden! Allein ich bin meines Glückes Schmiedin. Ich versuche den unterschiedlichen Lebensrealitäten der Kurgäste Rechnung zu tragen, weil ich unter keinen Umständen Anschluss suche.

Die Ehrgeizigen: Sie haben sich genau überlegt, warum sie kuren. Das mit der ärztlichen Leitung zu Beginn des Kurintervalls vereinbarte Ziel nehmen sie ins Visier und arbeiten hart. In der dritten Woche entweder nicht mehr ganz so verbissen oder beflissener als zuvor, ist ihnen ein Kurerfolg sicher. Vinceremos! lautet ihre Devise. Als Heimkehrende werden sie gefeiert.

Die Flüchtenden: Sie wollen ihrem Alltag entfliehen. Ihre gesundheitlichen Probleme gipfeln in einem speziellen Bereich. Der Zielort ihrer Kursehnsucht ist auf ihr Gebrechen spezialisiert. Dort wollten sie schon lange einmal hin. Der Wirbelsäule tut es gut und die Umgebung ist genau das, was man sich für einen schönen, dreiwöchigen Zusatzurlaub wünscht. Was die Flüchtenden bei ihrem Aufbruch nicht bedacht haben ist, dass man Ungemach nur gegen Ungemach eintauschen kann. Und wie es zu Hause kein Entrinnen gibt, so ist man hier dem Kurerfolg verpflichtet und strebt von Paraphe zu Paraphe.

Die BesserwisserInnen: Sie sind von einem Bildungsauftrag beseelt. Sie denken und handeln sowohl im Sinne der Kuranstalt als auch im Sinne der Kurgäste. Sie führen sozusagen die gesamte Kurwelt einem Sinn zu. Den Kurärzten und –ärztinnen erklären sie, warum sie etwaige Übungen nicht machen oder nicht in dieser Reihenfolge machen können. Den Mitkurenden erläutern sie den Zweck der jeweiligen sensomotorischen Übung, der Trinkkur mit oder ohne Jod, der Reduktionstage und der Zeitpläne. Sie sind nicht nur Organisationstalente, sie trägt der Gedanke der Effizienz.

Die DurchschummlerInnen: Sie nehmen alles zur Kenntnis wie es ist und versuchen möglichst alle Kurgesetze zu brechen. Sie kommen zu allen Anwendungen fünf Minuten zu spät, machen die Übungen nicht zehn sondern nur neun mal. Sie packen sich beim Frühstück die Taschen mit Proviant für den Tag voll, essen zu Mittag zwei Nachtische und in der Freizeit laufen sie in die Konditorei, um guten Kaffee zu genießen, nicht die Kurfilterplitschn, am besten natürlich mit einem Stück Torte und einem Zigarettchen. Trifft man sie beim Sidestep im Cafè oder oder beim Bier im Gasthaus, machen sie zwar betretene Miene, verändern aber keineswegs ihr Verhalten. Wenn die Vorturnerin die Übung erklärt, schwätzen sie weiterhin. Auch wenn sie es gewohnt sind, früh schlafen zu gehen, legen sie es in drei Wochen Kur darauf an, vor Mitternacht niemals ein Auge zuzutun und verkosten in ihren Zimmern Schnaps vom Bauernmarkt, den sie im Kleiderschrank vor der Putzfrau verstecken.

Die Wichtigen: Sie sind die Stars der Kur. Ihnen sollten wir möglichste entgehen. Vom ersten Tag an, wählen sie sich Lieblingsopfer aus, meist nur ein oder zwei. Mit denen verbringen sie jede freie Minute, erzählen von ihren Kindern, Ehen, beruflichen Belastungen, Heldentaten, Krankenhausaufenthalten, von Kuren, die sie schon absolviert haben und von solchen, die sie noch machen werden. Sozialvampire schlechthin.

Wenn man es zwei Kurwochen geschafft hat, ihnen auszuweichen, bleibt man mit etwas Glück auch in der letzten Woche von den Wichtigen verschont. Denn die haben dann schon ihr Gefolge gefunden.