Tag: #feministininleibnitz

Gewissensfrage

Mütter haben ein schlechtes Gewissen. Das belegt jetzt auch die neueste Studie. Mütter fürchten, den Anforderungen an sie nicht zu entsprechen. Dieses schlechte Gewissen haben sie vor Gott und der Welt. Sie fürchten, ihren Kindern gegenüber nicht genug Zeit, nicht genug Geld, nicht genug Engagement aufzubringen. Sie fürchten, ihre Kinder nicht optimal zu fördern. Sie fürchten, für einen Startnachteil ihrer Kinder in ein erfolgreiches Leben verantwortlich zu sein. Sie fürchten, die falschen Entscheidungen und letztlich die falschen Väter getroffen zu haben.

Woher kommt diese Angst, nicht zu genügen, gerade bei denen, die sich so lange überlegt haben, ob sie das Muttersein wagen sollen oder nicht? Die Macht des Gewissens, das Gerüst unserer Gewohnheiten, das unseren Alltag aufrecht erhält, unsere Gesellschaft funktionieren lässt, die auf Anhieb weiß, was richtig und was falsch, was gut und was böse ist, sie bestimmt uns Frauen. Hannah Arendt setzt das Gewissen dem Grad der Angepasstheit gleich. Sind wir Frauen die angepassteren Menschen? Woran haben wir uns angepasst? An den steigenden Wohlstand?

Wenn Wohlstand als Durchsetzung der eigenen Interessen auf Kosten Dritter definiert wird, dann sind wir Frauen für den Grad des Wohlstands in unserer Gesellschaft verantwortlich, allein durch unsere Geneigtheit, sich ausbeuten zu lassen und sich auch selbst noch auszubeuten. Denn mein Gewissen sagt mir, wie ich mich den anderen gegenüber zu verhalten habe, aber auch, was ich von mir selbst fordern muss. Die Gesellschaft hat die Frau Mut und angepassten Mut gelehrt. Selbstaufopferung und angepasste Selbstaufopferung. Das perfide an unserem Wohlstand ist, dass er sich ständig vergrößern muss, dass er ständig mehr will, dass er durch und durch ein kapitalistischer Wohlstand ist. Er will wachsen, sich mehren, größer werden. Er strebt nach Grenzenlosigkeit. Für sich, nicht für alle.

Wenn aber auch wir Frauen in diesem Wohlstand groß geworden sind, in diesem von uns selbst geschaffenen Wohlstand leben, warum entscheiden wir uns immer noch für das schlechte Gewissen? Statistisch gesehen steigt mit höherer Bildung auch die Wahrscheinlichkeit, sich als Mutter unglücklich zu fühlen. Denn unbestritten ist eine, die ständig unter einem schlechten Gewissen leidet, nicht glücklich.

Generationen von Männern und Machtmenschen hingegen, die eigene Nabelschau gewohnt, angefangen von der Bauchpinselei durch die Mutter, bis hin zur Ausbildung in einem Schulsystem, das uns lehrt, dass alles was wir sind und sein können, von Männern erschaffen wurde, bis hin zur treuen Anhänglichkeit der geduldigen Gefährtin, die sich jeder wünscht, haben offensichtlich kaum ein Gewissen. Ihnen sagt der Markt, was gut und böse ist. Und in der Zeitung lesen sie, dass Frauen Angst haben, nicht zu genügen. Wenn sie ihre Frauen also weiter bei der Stange halten wollen, genügt es, sich dieses latent schlechten Gewissens zu bedienen. Männer mögen kein Gewissen haben, aber stattdessen verfügen sie über ein hervorragendes Sensorium dafür, wo sie ihre Machtbestrebungen ausleben können.

#Dagg – Lesen, um zu Leben

Zäh kann sich das Leben gestalten. Das Leben oder das Lesen? Nur zäh komm ich mit der Juli Zeh voran. Das liegt daran, dass ich bei jedem dritten Satz “Über Menschen” hängenbleibe. Ich muss das Buch nur aufschlagen und weiterlesen wollen, schon kommt wieder so ein Satz. Ein Satz, der nach meinen Gedanken greift, der meine Muße zum Stolpern bringt. Juli Zeh beschreibt, wie sie ihre Zeit gerne als Leserin verbringen würde. Sie hat also dasselbe Problem wie ich!  Es gelingt ihr nicht, weil die individuelle Auseinandersetzung mit dem Text, das Lesevergnügen vollends ruiniert. Tatsächlich ist es so: Der Lesestoff zwingt mich in die Knie.

„Wenn das die conditio humana ist, was gibt es dann zu erreichen? Wenn selbst historisch einzigartiger Massenluxus nicht zu leidlichem Wohlbefinden führt, welche Aufgabe bleibt dann dem Fortschritt?“ ( Nachzulesen auf Seite 173 der festgebunden Ausgabe, die mir mein Buchhändler ohnehin nur sehr widerwillig aushändigte.)

Wahrscheinlich hat der Verkäufer mich deswegen vor dem Buch gewarnt. Das ist nichts für Leseanfänger, hat er gesagt. Dabei ist die Sache doch ganz anders gelagert. Ich finde, dass dieses Buch sich ausgezeichnet für Denkanfängerinnen wie mich eignet. Und je länger ich an dem Roman lese, desto mehr verstehe ich, dass Lesen nicht so viel Zeit braucht, weil ich langsam lese, sondern weil ich langsam denke. Oh Gott! Ich bin eine Denkanfängerin 40+!

Wenn das die conditio humana ist, dass das Denken schon Luxus ist, dann ist es doch wirklich kein Wunder, wenn Massen sich das nicht leisten können. Das Denken. Das Lesen. Alles muss schnell gehen. Da erstaunt es doch keinen Menschen, wenn ich eine Angststörung in Kombination mit einer Erschöpfungsdepression ausfasse.

Macron hat Le Pen auf den letzten Metern besiegt. Ein Sieg für Macron. Aber über die Menschen in Frankreich sagt das wenig aus, höre ich in den Nachrichten. Ich höre und verstehe nicht. Ist die Demokratie das Problem? Ich finde, das Hören noch schwieriger ist als Lesen. Und Verstehen ist schwieriger als Denken. Alles, was man selber tun muss, ist schwierig. Aber was ich wirklich tun muss, ist an meiner Kassa sitzen, die Artikel abpiepen und das Wechselgeld richtig herausgeben. Piep. Piep. Piep. Das macht mein Leben einfach. Wenn die Angst kommt, piepe ich sie einfach weg. Ich klappe mein Buch zu. Piep. Piep. Piep. Piep. Das bringt mir leidliches Wohlbefinden.

#Dagg: Wider die weibliche Verfügbarkeit

In der Wochenendausgabe meiner Zeitung habe ich eine Buchbesprechung gefunden: „Die Erschöpfung der Frauen“. Das hat mich sehr angesprochen. Der Untertitel lautet: Wider die weibliche Verfügbarkeit. Die Autorin, Franziska Schutzbach, eine in der Schweiz lebende Geschlechterforscherin, Soziologin und Publizistin, arbeitet sich an der modernen Frau ab. Sofort habe ich erkannt, dass das ein Buch für mich ist. Ich bin eine moderne Frau. Parallel zu Juli ZehÜber Menschen“ werde ich das gut lesen können. Denn Doras Erschöpfung in dem Roman hat doch wirklich ein gutes begleitendes Sachbuch verdient. Endlich kann sie einen Garten anlegen. Aber die Arbeit geht ihr nicht so von der Hand, wie sie sich das vorgestellt hat. Und ihre Nachbarn reagieren auf sie, die junge Frau aus der Stadt, mit Skepsis, Zurückhaltung, Ablehnung. Dora ist eine erschöpfte Frau. Ich auch.

Angesichts der Tatsache, dass ich allerdings innerhalb eines Monats über die ersten 50 Seiten von Julie Zeh nicht hinausgekommen bin und nun auch noch dieses zweite Buch neben meinem Lesesessel am Boden liegt, überkommt mich eine Art von Erschöpfungszustand, der weit über meine übliche Alltagsantriebslosigkeit hinausgeht. Wenn ich abends ins Bett falle, bin ich zu kraftlos, um eines der beiden Werke noch zur Hand zu nehmen. Da erscheint es mir doch wesentlich einfacher, es meiner Lieblingskundin gleichzutun. Sie erinnert mich immer wieder an das Labyrinth der Wörter, wenn sie in ihrem beigen Übergangsmantel neben dem Kassaband steht und wartet, bis sie an die Reihe kommt. Nach wie vor kauft sie jeden Vormittag ein. Genau diese eine Flasche Wein, manchmal auch Brot oder andere reduzierte Lebensmittel. Nie mehr als drei Artikel. Piep. Piep. Piep. Sie steckt alles in ihre schäbige Stofftasche, die sie bestimmt schon hundert Mal gewaschen und vielleicht sogar geflickt hat. Billige Literware. Die beseitigt meine Erschöpfung nicht. Sie verbrämt sie nicht einmal. Sie erklärt sie mir allerdings auch nicht.

#Dagg

Tagebücher

Das Tagebuchschreiben ist ja keine neue Idee von mir, wie die Psychotante vielleicht glaubt. Ich habe schon als Jugendliche Tagebuch geschrieben. Jahrelang. Hefte voll von Gedanken. Als ich dann geheiratet habe, war mir das alles zu viel, das Denken. Beim Umzug habe ich meine Tagebücher entsorgt. Ich erinnere mich noch an das erhebende Gefühl, als ich 53 Hefte in den Sperrmüllcontainer entsorgt habe.

Das war der Tag, an dem ich die Liebschaft meines Mannes zum ersten Mal gesehen habe. Damals wusste ich das natürlich nicht. Ich war damit beschäftigt, meine Vergangenheit in hohem Bogen auf den Müll zu werfen, als eine junge Frau in unseren Hof trat und mich fragte, ob hier wohl Herr Hesch wohne. Ja, sagte ich, wir sind gerade eingezogen. Sind sie die Mutter, fragte mich die Frau. Und da wir ja einen gemeinsamen Sohn hatten, mein Mann und ich, bejahte ich das.

Sie wohnen auch hier, fragte sie mich weiter. Ja, natürlich, antwortete ich. Und wer sind Sie? Diese Frage ließ sie unbeantwortet, sah sich um, begutachtete mich, in meinem Jogginganzug, in Gummistiefeln, ein bisschen verdreckt, mit strähnigem Haar und aufgekrempelten Ärmeln.

Soll ich ihm was ausrichten, fragte ich weiter. Nein, antwortete sie. Danke, nein.

Eine Hübsche, mit blonden Locken. Heute würde ich viel dafür geben, meine alten Tagebücher noch einmal lesen zu können. Die Frau dreht sich um und ging. Als ich meinem Mann von der seltsamen Begegnung berichtete, meinte er, da habe wohl nur jemand nach dem Weg gefragt. Es sei eben meine Eigenart, alles überzuinterpretieren.

Wenn ich mir heute die ersten Folgen von Zelenskys “Diener des Volkes” ansehe, dann kann ich erkennen, wie ich in meine Rolle hineingerutscht bin. Erst hab ich den Hausdrachen nur gespielt. Und dann war ich es plötzlich wirklich. Ich wollte gar nie so sein. Ich bin in die Rolle hineingewachsen. Sie war mir auf den Leib geschrieben. Ich habe mich mit ihr identifiziert. Nur war ich, im Unterschied zu Zelinsky, nicht Präsident wider Willen, sondern mit einem Mal zuständig für ein Familienleben.

Der Hesch hat mir die Bankomatkarte fürs Familienkonto wenige Monate nach der Geburt unseres Sohnes abgenommen, weil ich zu viel ausgegeben habe. Das Familienkonto hieß nur Familienkonto, so lange ich verdient habe. Aptamil und Windeln, Strampelhosen und Fencheltee, dafür bin ich arbeiten gegangen. Wenn die organisierten Alleinerzieherinnen heute vorrechnen, dass ein Kind 900€ im Monat kostet, kann ich nur sagen: Das kommt ungefähr hin. Ohne Zusatzversicherung allerdings, ohne Sommerferiencamps und Zahnregulierung.

Ich war halt blöd. Deswegen hab ich meine Tagebücher auch weggeworfen. Vorher war ich ja noch blöder.

#Dagg Tiere Englands …

Journalstudio, Dienstag der 29. März. Verhandlungen zum Ukrainekrieg in der Türkei. Die Zuständigen für die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Länder und Bundesländer bitten um keine Diskussion über Quoten. Sehr seltsam. Niemand kann sich eine Gewinnausschüttung ohne Quoten vorstellen. Ein aliquoter Anteil des Gehalts geht für Steuern drauf. Wettquoten. Einschaltquoten. Importquoten. Abfallquoten. Für alles, was gerecht sein soll, gibt es Quoten. Aber eine Flüchtlingsverteilungsquote und eine Frauenquote brauchen wir mit Sicherheit nicht. Da genügt uns das Augenmaß voll und ganz. Österreichs Bauern suchen weiterhin dringend Kräfte für die Erdbeer- und Spargelernte. Je teurer die Arbeitskräfte, desto niedriger der Gewinn. Ein Job also, den vor allem Frauen und andere Ausländer annehmen sollten, um zur Gesellschaft etwas beizutragen.

Außerdem, so höre ich, besteht überhaupt kein Grund zu befürchten, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Das sagt fünf Wochen nach Kriegsbeginn der russische Außenminister. Warum fällt mir bloß Orwell ein? Welches Tier bin ich, auf dieser Farm der Tiere? Fragen über Fragen. Aber dunkel glaube ich mich, daran zu erinnern, dass noch drei Tage vor Kriegsbeginn hoch und heilig beteuert wurde, dass es niemals zu einem Überfall auf das Brudervolk kommen würde.

Anstatt sich mit der näheren Geschichte zu beschäftigen – mit dem, was vor drei Wochen oder drei Monaten oder auch vor drei Jahren war – diskutiert man mit Heftigkeit eine Fernseh-Watschen, die einer dem anderen gegeben hat. Um beim Tierreich zu bleiben: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ein Diskurs als Ersatzbefriedigung für einen anderen, viel dringenderen. Denn manche sind gleich und mache gleicher.

Meine Giséle kauft wieder täglich ihren billigen Wein. Sie spart bei sich selbst. Was man von hier aus sehen kann, sind das die alltäglich Dinge, die mich bewegen. Heute nehme ich mir nach der Arbeit auch einmal einen Liter von Giséles Lieblingströpfchen mit nach Hause. Prost!

Blütenpelz (@Anna Aldrian)

#Dagg

Du bist eine Heldin!

Die Therapeutin sagt zu mir: Du bist eine Heldin.

Sie sagt nicht: Sei eine Heldin! Sondern sie ist überzeugt davon, dass ich eine Heldin bin.

Was soll schon Heldenhaftes an mir sein? frage ich. Denk nach! Streng dich an! Nimm dein Tagebuch!

Der Schlacht meines Lebens stelle ich mich täglich. Wenn der Wecker läutet, stehe ich auf, auch wenn ich lieber im Bett bleiben möchte. Ich absolviere meine Arbeitszeiten laut Dienstplan. Den Dienstplan schreibe ich nicht. Aber ja, was zu tun ist, das mache ich. In meinem Inneren höre ich die Melodie: Working Class Hero von John Lennon.

Zeit habe ich eigentlich nie, oder gerade eben genug, um das zu erledigen, was getan werden muss. Meine Kinder sind nun erwachsen und meine Topfpflanzen vertrocknen nicht. Ich habe die Zeit mit meinen Eltern durchgestanden. Meine Kindheit. Im Nachhinein betrachtet, im Vergleich mit anderen, naja. Das ist alles sehr lang her. Meine Schulzeit war eigentlich nicht schlecht. Einmal davon abgesehen, dass sie mir nicht viel gebracht hat. Mit Matura und einem fast abgeschlossenen Studium arbeite ich an der Kasse. Es ist besser für mich, nicht zu viel zu wissen. Mit Klugscheißerei macht man sich nur Feinde. Das Leben wird schwieriger, wenn du immer das letzte Wort haben musst. Ich muss nicht.

Ich hätte öfters gern den Job gewechselt. Ab und zu hatte ich richtig große Pläne. Und dann war ich doch immer wieder froh, meinen Arbeitsplatz zu haben. Schließlich braucht man das Geld. Wer nichts hat, kann sich auch nichts erwerben. Es reicht gerade für das tägliche Leben. Auf meinem Konto bin ich nicht oft im Plus. Im Grunde genommen habe ich mir das Leben, das ich jetzt führe, auch erwartet. Ich wollte immer frei sein, mich unabhängig fühlen. Deswegen sitze ich seit dreißig Jahren an der Kasse.

Gestern hat meine Giséle, die mit der Stofftasche, eine Flasche Asti Spumante gekauft, Chips und Oliven. Diesmal keinen billigen Wein. Heute kommt meine Tochter! hat sie mir zugeraunt. Ich könnte schwören, sie hat mir sogar zugezwinkert. Ein feuchtes Blinzeln um ihre faltengesäumten Augen.

Ich sehe sie vor mir, wie sie ihre Wohnung aufräumt. Wie sie die Leerflaschen, die sich angesammelt haben, zum Altglascontainer bringt. Sie putzt und lüftet und macht das Badezimmer sauber, legt ein frisches Handtuch zum Waschbecken. Wenn ihre Tochter kommt, ist der Sekt eingekühlt und die Chips und die Oliven stehen in kleinen Schüsselchen am Tisch. Vielleicht hat sie ein Fotoalbum herausgelegt, um mit der Tochter Kindheitserinnerungen anzusehen. Die Tochter bringt ihr Blumen mit.

Ja. Wir sind Heldinnen! Die Heldinnen des Alltags.

#Dagg Versailles 2022

Sie gockeln in Versailles herum, sitzen in Antalya an großen Tischen hinter einem bombastischen Blumengesteck und sprechen über den Krieg in Europa. Es gibt einen Liveticker zu den Kampfhandlungen, der berichtet, dass die Hälfte der Menschen aus Kiew bereits geflohen ist. In der ZiB sehe ich Männer Plastiksäcke mit Leichen in Gräben werfen, die vielleicht einmal Schützengräben hätten sein sollen. Nun werden sie zu Massengräbern. Unsere Politiker wollen die Mehrwertsteuer auf den Benzinpreis aussetzen. Das hilft nur den Finanzkräftigen und den Konzernen, nicht den Menschen, die zur Arbeit fahren müssen, sagt Frau Schratzenstaller. Seit dem Weltfrauentag fällt mir auf, dass alle darüber reden, dass nun auch mehr Frauen sichtbar sind. Die Frau Schratzenstaller zum Beispiel. Mehr Frauen als wann? Als im Mittelalter? Schon durchschnittlich 5% der Musikerinnen bei Großevents sind in Österreich weiblich. Potzblitz! Gefühlt dürfte das wohl auch die Frauenquote in Versailles sein. So ein Krieg! Er dauert schon 14 Tage. Gut, dass meine Mutter das nicht mehr erlebt! Sie war eine Anhängerin der Vorratswirtschaft. Der Krieg kommt über Nacht, hat sie immer gesagt und gerne vom Keulenschwingen beim BdM erzählt. Im Keller stehen noch Einweckgläser von ihr, mit Kompott, Marmelade und Russenkraut aus den Achtzigerjahren. Relikte, die ich nicht zu entfernen wage. Die Urne mit ihrer Asche verwahre ich auf dem Bücherbord, neben Doktor Schiwago und Vom Winde verweht. Alkohol darf in der Ukraine nicht mehr verkauft werden. Bei uns geht der Alkohol weg wie die warmen Semmeln. Ich kenne meine Kundschaft. Die weniger Finanzkräftigen kaufen den billigen Alk. Manchmal denke ich mir Geschichten aus, zu den Leuten, die mir auffallen. Eine Frau, die mich an Gisèle Casadesus im Labyrinth der Wörter erinnert, trägt immer einen beigen Staubmantel und hat eine Einkaufstasche aus Stoff. Sie kommt fast täglich, vormittags. Erst wenn sie schon fast an der Reihe ist, zieht sie die Weinflasche aus dem Einkaufsbeutel und legt sie aufs Band. Selten kauft sie mehr als drei Artikel. Eine Flasche Wein ist immer dabei. Sie kauft Literware, um 1,69. Gestern hat sie mit einem schelmischen Zwinkern zu mir gesagt: „Mein Sprit ist jetzt billiger als der Saft an der Zapfsäule.“ In meiner Vorstellung geht sie nach Hause. Sie stellt die neue Flasche in den Kühlschrank und trinkt den Rest vom Vortag aus einem altmodischen, hochstieligen Glas. Vielleicht prostet sie sich auch selbst zu und ist froh, dass sie die schwierigste Aufgabe des Tages erledig hat. Den Einkauf. Der Tag ist gerettet. Sie würde mehr trinken, wenn sie mehr Wein zu Hause hätte. Aber ihre Selbstdisziplin, ihre Routine, ihr Weg zu meinem Supermarkt und ihre Rationen halten sie fit. Heute hat sie zum ersten Mal mit mir gesprochen. Ihre Stimme war spröde. Sie war ein bisschen aufgekratzt. Vielleicht hat sie den Rest von gestern heute schon vor ihrem Einkaufsspaziergang getrunken. Seit ihr Germain abhandengekommen ist, trinkt sie ab und zu auch auf ihn und auf Mütterchen Russland.

#Dagg Atomkraftwerk

Das Tagebuch von Daggi Hesch bewegt mich immer wieder aufs Neue.

Die Kraft jedes Einzelnen reicht nur für ein paar Quadratmeter Welt, schreibt Juli Zeh. Und sie zitiert den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem gemäß Unordnung sich immer größtmöglich auszubreiten sucht. Ich frage dich, liebes Tagebuch, ist meine Angst vielleicht eine innere Unordnung, die genau diesem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entspricht, die sich größtmöglich ausbreitet? Sie vermischt sich mit all meinen Gefühlen und Gedanken und lässt mir keinen Raum, den ich in irgendeiner Weise ordnen könnte. Das führt dazu, dass nicht nur mein Garten sondern auch mein Haushalt schön langsam verwildert. Meine Gedanken kommen nicht mehr zur Ruh. Ich sehe die Bilder der Zerstörung und des Krieges, die flüchtenden Frauen und Kinder und ich frage mich, was aus all den Beschwörungen und Lobgesängen auf den Frieden geworden ist, die man in letzter Zeit immer wieder angestimmt hat. So lange hat es in Europa keinen Krieg mehr gegeben, wenn man vom Jugoslawienkrieg absieht. Und nun bombardiert Putin ein Atomkraftwerk, um es wenige Stunden später einzunehmen. Die Welt diskutiert, wie sie kurz zuvor über die Rückkehr der Taliban in Afghanistan diskutiert hat, über Trumps Sturm aufs Kapitol, über das kontinuierliche Ertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer. Was ist uns geblieben, außer über unfassbare Dinge politisch zu debattieren? Mit mir diskutiert niemand. Ich tippe und piepe tagein tagaus an meiner Supermarktkassa, nenne die Summe, die Menschen bezahlen. Wenn ich länger arbeite beklagt sich niemand, wenn ich später komme oder früher nach Hause gehen will, muss ich das genau erklären, als hätte ich gerade ein Atomkraftwerk bombardiert. Da geht es um was. Für mich wird es gefährlich. Das höre ich schon am Ton.

„Alles was wir haben, sind getroffene Entscheidungen.“ schreibt Natasa Kramberger, die Slowenin, die kürzlich im Bildungshaus Retzhof gelesen hat. Aber welche Entscheidungen habe ich schon getroffen? Vielmehr treffen die Entscheidungen anderer mich. Ich bin es, die sich getroffen fühlt. Nicht an den Sätzen hängenbleiben! Das Nicht-mehr-Mitkommen wird mir durch die Lektüre von Juli Zeh manifest. Weitermachen! Weiterleben!

#Dagg

Daggi Hesch versucht zu denken, was nicht immer leicht ist, wenn Frau im Alltag gefangen ist und mit wenig auskommen muss. Trotzdem freue ich mich, dass sie immer wieder kommt und ihr Tagebuch mitbringt.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Die Wiener:innen machen sich Sorgen um ihre Gas betriebenen Heizungen und wollen jetzt umrüsten. 6.000€ kostet das ungefähr pro Haushalt und wird von Stadt und Bund gefördert. Es scheint, der Ukrainekrieg bringt die besten Seiten Europas zum Vorschein. So einig war man sich seit Bestand der EU noch nie. Wir rücken zusammen. Nur Sobotka rückt ab, allerdings nur für diesen einen Ausschusstag, denn Peter Pilz hat angekündigt, neue Chat-Protokolle vorzulegen. Heute ist also wieder einmal ein großer Auftritt zu erwarten. Während, wie ich gestern in den Nachrichten gehört habe, der Drahtzieher Schmid schon längst nicht mehr in Österreich lebt und Kurz im Silicon Valley arbeitet. Väterkarenz, sozusagen.

Es ist halt, wie es immer ist. Die Bösen sind immer die Männer. Die Kriegstreiber sind immer die Männer. Aber die Guten sind auch immer die Männer. Sie verkaufen Fußballklubs und gründen damit Stiftungen, um Kriegsopfer zu unterstützen. Die Reichen sind Männer, die Jobgewinner sind Männer. Die Ausschussvorsitzenden sind Männer. Die wirklich interessanten Befragten sind Männer. Nur ein Mann kann auf die Idee kommen, die Mikros für alle Ausschussmitglieder abzudrehen, so dass keine unliebsamen Fragen mehr an den Bundeskanzler gestellt werden. Der ist übrigens auch ein Mann. Gut dass ich an der Kasse sitz. Dort sind wir zufällig lauter Frauen.

Seit ich an der Juli Zeh lese, habe ich Schmerzen im rechten großen Zeh. Wenn das nicht ein Zufall ist. Sie schreibt von ihrem Garten und nennt ihn „verwilderte Brachfläche“. Das ist schon der nächste Zufall, denn damit könnte sie auch meinen Garten meinen. Nicht nachdenken. Weitermachen. Immer wenn ich das lese, klappe ich das Buch wieder zu und frage mich, wann ich eigentlich das letzte Mal etwas Sinnvolles gedacht, richtig nachgedacht habe. Nicht nachdenken. Weiterlesen. Aber dann ist es schon halb 8. Es beginnt die ZiB und ich schalte wieder ein.

#Dagg: Carmen Herrera

Daggi Hesch stellt mir einen weiteren Tagebucheintrag zur Verfügung. Wie ich mittlerweile erfahren habe, arbeitet sie im Supermarkt, im Kaufpark an der Kasse. Sie sagt: Beim Krieg ist es wie beim Virus vor zwei Jahren. Da haben auch alle gedacht, das ist was irgendwo in China. Das geht ja uns nix an. Und auf einmal waren wir alle mittendrin. Ich hör ja den ganzen Tag, was die Leute reden, an der Kassa.

Meine Therapeutin hat mir geraten Tagebuch zu führen. Ich soll mich besser kennenlernen, um zu erkennen, wann die Angst über mich kommt. Ich soll mich mit mir selbst auseinandersetzen, mir aufschreiben, was mir auffällt. Mir fällt aber nichts auf. Was schreibe ich also?

Alle Medien sind voll mit dem Ukraine-Krieg. Russland hat seine Atomsprengköpfe in Stellung gebracht. Menschen sind auf der Flucht. Schreckliche Bilder! Die Benzinpreise sind gestiegen, so dass ich das erste Mal richtig froh bin, seit 12 Jahren kein Auto mehr zu haben, das ich mir auch schon damals nicht leisten konnte.

Im Morgenjournal habe ich einen Beitrag über die Madrider Kunstmesse gehört. Wie gerne würde ich einmal wieder verreisen, die Kunstwelt der Tirolerin Eva Schlegel sehen. Man hat sich in Madrid diesmal für „Frauen und Kunst“ als Motto entschieden, um historisches Unrecht wieder gut zu machen. Und daher sind 40% der ausgestellten Werke von Frauen. Zum Lachen ist das. Die prominenteste Galeristin kommt dann zu Wort, und was sagt sie: „Da bin ich aber ganz, ganz böse! Bei Kunst ist es doch ganz egal, von wem sie stammt, ob von Mann oder Frau. Kunst ist Kunst.“ Wahrscheinlich sind deswegen alle Museen voll mit namhaften Malern, Künstlern, Fotografen, Musikern. Weil es keine Frauen gibt, die dazu in der Lage waren, mit einem Goethe, Warhol, Bach mitzuhalten. Oder sollen die dummen Morgenjournal-Hörer:innen glauben, Frauen sind halt nicht so kreativ. Sie sind ja auch in Politik und Wirtschaft nicht präsent. Mein Erfolg besteht darin, dass ich seit 30 Jahren beim selben Arbeitgeber Teilzeit arbeite. Kaum war die Madrider Kunstmesse eröffnet, hat auch schon ein erster Sammler ein Werk um 58.000 Euro erstanden. Sogar zum Kunstkaufen sind sie zu ungeschickt, die Frauen. Wie gut, dass ich mir immer das Morgenjournal anhöre.

Ich habe Ani Gülgün Mayr auf fb geschrieben, denn vor nicht zu langer Zeit hab ich in ORF III einen Bericht gehört, über eine Malerin, die ihr erstes Bild mit 89 Jahren verkauft hat. 105jährig wurde sie dann in die Akademie der Künste aufgenommen. 106jährig ist sie verstorben. Gerade noch die Kurve gekratzt, sage ich da. Aber googeln kannst du sie nicht, wenn du ihren Namen nicht weißt. Deswegen zitieren sich Männer so gern gegenseitig. Hören sich gerne miteinander voneinander sprechen. Lesen einander gerne. Um nicht in Vergessenheit zu geraten. Immerhin gibt es einen Wiki-Eintrag über Carmen Herrera, den ich dank Ani Gülgün Mayr dann lesen konnte.